6. Kapitel

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Maras Mutter hatte gekocht. Als sie aufschloss schlug ihnen der deftige Geruch der Pasta entgegen.
"Mara, bist du das?", fragte ihre Mutter, bevor sie in den Flur trat.
"Was war denn los vorhin?", sagte sie, während sie ihre Hände nach trockenen Stellen untersuchte. "Oh, hallo", zögerte sie als sie Maurice erblickte. Der Mann kam ihr bekannt vor.
"Ist hoffentlich nicht schlimm, dass ich ihn mitgebracht habe", sagte Mara.
"Jasi?" Maras kleiner Bruder torkelte verschlafen zu ihr. Nur er durfte sie so nennen. "Wer ist das?", fragte er, Maurice anschauend.
"Maurice", flüsterte Maras kleine Schwester hinter vorgehaltener Hand, aber der Genannte hörte es trotzdem.
"Das ist Maurice", stellte Mara ihn vor.
"Ich will keine Umstände machen", sagte er. Die Augen der Frau, hinter der er Maras Mutter vermutete wurden groß. "Nein", beschwichtigte sie ihn. "Ist okay, ich koche immer für einen mehr."
Mara wusste, dass er sich blöd vorkam. "Wir reden nochmal unter vier Augen, wenn du möchtest."
"Das ist angebracht."

Sie lotste ihn in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. "Es gibt da eine Sache, die du wissen solltest", begann sie ohne Umschweife. Wenn jetzt alles auseinanderbrach, wäre sie vielleicht drei Wochen traurig, aber sie wusste, dass sie auch irgendwann wieder würde lachen können. "Ich bin achtzehn."
"Niemals." Maurice war noch nie so eiskalt erwischt worden.
"Ich lege gerade mein Abitur ab und mache im Anschluss meine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Der Raum ist so leer, weil ich gerade umziehe", erklärte sie.
Er war immer noch überrascht. "Wann genau kommst du denn hier raus? Und wohin ziehst du?"
"In meine eigene Wohnung im Prenzlauer Berg; guck nicht so, mein Lieblingsbezirk ist das auch nicht. Im Juni ... Du hättest nie mit mir geschlafen, wenn du's gewusst hättest und ich hoffe, du siehst es genauso wie ich, wenn ich sage, dass das Alter eine Zahl ist und nichts weiter."
Maurice setzte sich, er fragte gar nicht erst, ob es ihr genehm wäre. Er drehte auf ihrem Bürostuhl eine Runde und wusste, dass sie recht hatte. Es war nur eine Zahl und sie war nicht minderjährig, aber hätte er es gewusst, hätte er sie definitiv auf Abstand gehalten. Sie ging noch zur Schule, aber nur noch zwei Monate. "Beeindruckende Buchauswahl", sagte er zusammenhanglos und zeigte auf drei einzelne Bücher, die sich über ihrem Bett auf einem schwebenden Regalbrett aneinander reihten.
"Freu dich nicht zu früh, im Keller steht meine ganze Bibliothek. Die Hälfte ist schon in Kartons, aber um die andere muss ich mich noch kümmern", sagte sie.
Es klopfte. "Das Essen wird kalt", warnte Maras Mutter.
"Noch was", sagte Mara an Maurice gewandt. "Hier weiß außer meinem kleinen Bruder jeder, wer du bist. Meine Mutter wird dich wie einen ganz normalen Menschen behandeln, aber meine Schwester ist gerade mal dreizehn."
"Labert sie mich voll?"
"Nein, sie ist eher der schweigsame Typ."
Maurice atmete geräuschvoll aus. Scheiß drauf, dachte er. Mara war ihm nicht egal, das hatte er vorhin selbst ausgesprochen.

Er folgte ihr in die geräumige Küche, wo schon alle am Tisch saßen und ein fünfter Stuhl ans Kopfende gerückt worden war.
Mara nahm darauf Platz, bevor er es tun konnte. Sie hätte sich ausgestellt gefühlt, wäre ihr ihre Familie fremd, was in Maurice Fall zutraf.
Er nahm neben ihrer Mutter Platz, gegenüber von Leon, ihrem Bruder.
Maras Schwester Edda starrte ihn an, was Maurice nicht entging. Er starrte kurzerhand zurück bis sie den Blick abwandte. Eines Tages würde sie wie Mara das Blickduell gewinnen, aber es würde noch ein paar Jahre dauern.
"Wieso hat Jasi dich eingeladen?" Leon schaute ihn neugierig an. Auch in ihm erkannte Maurice sie wieder.
"Ich glaube, sie mag mich. Vielleicht deshalb." Er lächelte Mara einen winzigen Moment lang an.
"Magst du Jasi nicht?", fragte Leon weiter. Er ist neun, dachte Mara und vermutete, dass Maurice sein Alter schon in etwa geschätzt hatte und ihm vergab.
"Nein, aber sie hat mir Essen versprochen, wenn ich mit ihr hierherkomme", antwortete er grinsend.
"Du machst einen Witz", sagte Leon.
"Pst, wenn du sagst, dass es ein Witz war, findet ihn ja keiner mehr witzig", wies Maurice ihn zurecht.
"Soll ich mal einen Witz erzählen, weil: Deiner war überhaupt nicht lustig, meiner aber bestimmt schon."
Leon erzählte etwas von zwei Muffins, die sich im Ofen trafen oder so ähnlich.
Mara hörte nicht zu und lachte nur an der richtigen Stelle. Sie beobachtete Maurice fasziniert, der offenbar aufmerksam lauschte. Er schlug sich wacker, das hatte sie ihm nicht zugetraut bei seiner sarkasmusgeprägten Lebensweise. Sie hatte immer angenommen, in seiner Welt gäbe es keinen Platz für Menschen unter neunzehn und hier war er nun und bewies ihr das genaue Gegenteil. Sogar Edda taute auf und berichtete von ihrer letzten Französischarbeit, die von einem Fußball unterbrochen wurde, der die Scheibe einschlug. Mara hatte keine Ahnung wie sie auf das Thema gekommen waren.

Maurice verstand sich blendend mit Maras Familie. Es fiel ihm leicht, weil sich Mara in jedem ihrer Gesichter und Worte widerspiegelte. Bloß der träumerische Teil, der größte Teil von ihr fehlte und zum allerersten Mal fiel ihm auf, dass ihr Vater nicht hier war. Dass drei Kinder, Mara eingeschlossen, und eine alleinerziehende Mutter am Tisch saßen und so alle vier Stühle, die zum Esstisch gehörten besetzt waren. Es gab keinen Vater ...

"Bleibst du über Nacht?", fragte Mara als sie fertig waren und den Tisch abräumten. Maurice hatte sich nützlich machen wollen, sodass sie es vorgeschlagen hatte.
"Musst du nicht morgen zur Schule?", fragte er zurück.
"Meine mündliche Abiturprüfung in Englisch ist um zwölf Uhr angesetzt. Hier ist morgens immer Lärm, also solltest du deine Tiefschlafphase so um sieben eintakten. Ich würde mich freuen."
Er überlegte. Eigentlich hatte er ja nichts Besseres zu tun. "Meinetwegen", beschloss er.
"Deine Begeisterung ist wirklich kaum zu toppen. War es anstrengend gerade?"
"Das Essen? Ja. Ich hab selten mit Kindern zu tun, die so jung sind wie dein Bruder und deswegen keine Übung im Umgang mit denen", sagte er und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt. War er echt so dumm gewesen und hatte ihre Familie als anstrengend bezeichnet?
Sie lachte schlicht und Maurice' Zweifel verflogen. Vielleicht war er nicht verliebt, das war nicht das richtige Wort, aber die Sympathie, die er für sie empfand ging weit über Freundschaft hinaus.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt