38. Kapitel

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"Du bist hier." Mara stand im Flur und beobachtete Maurice dabei, wie er seine Jacke über einen der Haken an der Wand hängte.
"Ich hab doch gesagt, ich komm wieder", lächelte er vorsichtig.
Sie hatte ihm so sehr glauben wollen, dass sie es letzten Endes tat; aber es hatte seine Zeit gebraucht. Stundenlang.
"Lass uns auf der Couch sitzen, okay?", schlug er vor.
Mara nickte und lief stumm, die Arme vor der Brust verschränkt, zurück ins Wohnzimmer.
Das Fenster war sperrangelweit offen und es zog. Maurice schloss es und verjagte so die kalte Luft.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in ihrem dünnen, grauen Cardigan gefroren hatte.
Sie sank in das weiche Polster ihres Sofas und er tat es ihr, mit dem in dieser Situation angemessenen Abstand, gleich.
"Ich -", sagten beide gleichzeitig.
"Du zuerst", nickte Maurice ihr zu.
"Ich wollte mich entschuldigen. Ich glaube nicht, dass du irgendwas auf andere Mädchen gibst. Ich vertraue dir; du würdest mich nicht betrügen. Aber ich bin manchmal eifersüchtig, deshalb hab ich das vorhin gesagt; das tut mir leid. Ich will nicht besitzergreifend sein." Sie ließ erst einmal weg, dass auch er sich an dieses Freiheitsabkommen, was potentielle andere Partner betraf, halten sollte. Sie wollte Leo nicht verlieren, darum hatte er natürlich das Recht auf Freunde des anderen Geschlechts. So wie sie. Maurice würde sich seinen Teil schon selbst denken.
"Ich will auch nicht besitzergreifend sein. Oder, wie du es ausgedrückt hast: Egoistisch. Ich würde dich nie betrügen, das stimmt. Und ich vertraue dir, wenn du sagst, dass du es auch nie würdest. Tut mir leid, dass ich dieses mit dem Glücklich-Schätzen meinte. Das war nicht fair. Tut mir generell einfach leid." Er starrte auf den alten Holzboden zu seinen Füßen.
"Frieden?", hörte er sie fragen. Er nickte.
Mara rutschte an ihn heran und er schloss sie in seine Arme, wo sie verharrte.
Er konnte ihren ruhigen Atem spüren; fühlen, wie sich ihre Brust gegen seine hob und senkte und ihr pochendes Herz, ganz schwach und entfernt. Sog den Duft ihres Haars ein, hielt sie fest.
Sie roch an ihm. Dieser Geruch von Kindheit, Frische und Sicherheit. In Verbindung mit seinem Deo unverwechselbar. Sie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken.
Nichts fühlte sich so gut an wie Maurice. Der Druck an den Stellen, an denen er sie umschloss war so entspannend wie eine Massage nach einem langen Arbeitstag. Dabei tat er überhaupt nichts, was einer Massage gleichgekommen wäre. Er hielt sie fest. Unerklärlicherweise war das alles, was Mara je gewollt hatte. Bei ihm sein.
Die Minuten verstrichen und Maurice fiel wieder ein, was Edda im Krankenhaus erwähnt hatte. Nämlich, dass Mara nicht schlafen würde, bevor nicht alles zwischen ihnen geklärt wäre. Er warf einen Blick auf sein Handy. Schon zwei Uhr nachts.
"Komm, ab ins Bett, ich bin müde", log er. Er log sie nicht gerne an, aber in besonderen Fällen half nur das. Wie als er sagte, er nehme instinktiv wahr, wann sie sich selbst verletzen wollte, als er sie zum zweiten Mal mit der Klinge in der Hand erwischt hatte.
Sie hatte gewusst, dass es nicht stimmte. Es war Zufall. Aber es hatte geholfen. Es kamen keine neuen Schnitte dazu. Und er wusste es genau, denn er kannte jeden Zentimeter von ihr.
Sie hatte ihm nur zu gern geglaubt damals. Er hatte eine Leiter in das tiefe, schwarze Loch gestellt, sie so gelockt, bis sie schließlich von allein wieder an die Oberfläche zurückgeklettert war.
Es half auch heute. Mara gähnte wie auf Kommando und ließ sich gegen seine Schulter fallen.
"Na, komm", wiederholte er, hob sie hoch, trug sie ins Schlafzimmer und verschwand selbst im Bad.
Sie streckte sich grummelnd, bevor sie wieder aufsprang, Pyjamahose und T-Shirt aus dem Schrank holte. Ein Notenständer zierte die Vorderseite. Ein Geschenk von Chloe, früher; in einem anderen Leben. Voller Nostalgie betrachtete sie sich im Spiegel, flocht ihre Haare zu dem Fischgrätenzopf, mit dem sie immer schlief.
Die Reflexion zeigte ihr einen normalen Körper. Ein hübsches Mädchen mit ein paar Narben.
Wenn sich die Wahrheit spiegeln würde, wäre ich halb verrottet, dachte sie. Nichts an ihr war ganz, sie war kaputt, in Einzelteile zerlegt - Außer in Maurice Gegenwart. Bei ihm war sie ganz. Vollständig.
Dieses Gefühl hatte sie zuvor nie gekannt und es kostete sie viel Anstrengung, nicht erschrocken vor ihm wegzulaufen. Ein aufgescheuchtes Reh. Bambi-Augen. Weil er ja so vertraut war, dass sie es schon wieder befremdlich fand.
Die Sucht nach diesem Gefühl hielt sie.
"Bad ist frei." Er küsste ihr Schlüsselbein und sah sich selbst im Spiegel.
Sein körperlicher Zustand hatte sich neutralisiert. Gesunde Hautfarbe, keine sichtbaren Zeichen der Erschöpfung. Mit ein bisschen Training im Fitnessstudio morgen, wäre er wieder ganz der Alte.
Er war nicht zufrieden mit sich, nein, alles war ausbaufähig. Unfreiwillig verglich er sich mit Leo. Größer, aber weniger breit; blasser, definitiv. Für seine intime Mitte konnte er keine Referenz nutzen. Er sah sich selbst schief an, wegen dieses nahezu lächerlich testosterongeladenen Konkurrenzgedanken.
Gemessen an ihrer Schönheit gehe ich unter, dachte er.
Mara kam durch den Gang auf ihn zu, erleuchtet von den Dioden, die die unsichtbaren Sterne am Berliner Nachthimmel ersetzten.
Der Moment, in dem sie sich küssten, war unbeschreiblich.
Er dachte, das wäre vielleicht der Sinn des Lebens; der Grund warum er, Maurice Druger, geboren worden war.
Maras Hand lag auf seiner Brust. Sie stand, wie immer, wenn sie ihn küsste, auf Zehenspitzen. Nichts fühlte sich so gut an wie Maurice, gestand sie sich ein. Kein Hungerleiden. Keine Klinge. Nichts brachte brüllenden Schmerz so zum Verstummen wie seine weiche Lippen auf ihren.
Maurice durchwachte die Nacht, während Mara selig schlief. Er konnte einfach nicht schlafen und die Langeweile trieb ihn auf den Balkon. Er weckte sie nicht, schaute auf die dahinbrausenden Autos herab. Eine tiefe Straßenschlucht war das. Wer runtersprang, käme ganz bestimmt nicht mit gebrochenen Knochen davon.
Suizidgefährdet, zischte eine Stimme in seinem Kopf.
Er presste die Zeigefinger an die Schläfen und versuchte die Übelkeit, die sich in ihm ausbreitete, zu zerstören.
Er wäre da, wenn sie es wagen sollte. Er würde nicht versagen.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt