14. Kapitel

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"Trinkst du immer so wenig?"
Maurice' Frage ließ Mara aufhorchen.
"Nein. Ich halte mich ein bisschen fern von härterem Zeug, weil ich sehr schnell betrunken werde."
Süß. Er fand es süß, hielt sie an und küsste sie. Jemand rempelte sie an, aber das war egal.
"Die sind echt alle so nett", sagte sie.
"Nicht alle. Aber die meisten sind angenehme Gesellschaft", lachte er.
"Ich mag sie. Obwohl ich keine Menschen mag. Wir sind eine ekelhafte Spezies."
"Ja."
Maurice hätte schwören können, dass diese Verliebtheit nie wieder weggehen würde.
Mara drehte sich lächelnd, angestrahlt von den roten und grünen Lichtern der Ampeln. Ein göttlicher Anblick.
"Würdest du immer noch irgendwo einbrechen?", fragte sie ihn.
"Ich brauche es nicht. Dieses Gefühl war immer krass, aber ich weiß nicht, ob ich es je wieder tun würde."
"Los, wir fahren zur Philharmonie", schlug sie aufgeregt vor und zog an seinem Ellbogen.
"Vorhin hattest du noch gar keinen Bock darauf und jetzt?", lachte er.
"Meine Meinungen ändern sich im Sekundentakt, Stillstand ist sinnlos."
Hoffentlich gilt das nicht für ihre Gefühle, dachte Maurice schockiert.
"Na hopp!", forderte sie und sprang die Treppen zur U-Bahn hinab.
Er holte sie auf dem Bahnsteig wieder ein.
Müdigkeit war Mara ein Fremdwort. Die Zeit, in der sie nicht schlief, glich sie am Tag aus.
Maurice folgte ihr auf dem Fuße.

"Wie bist du zur Harfe gekommen? Ist ja eher ein ungewöhnliches Instrument", wollte er wissen.
"Passt zu mir, oder? Ich war auf einem klassischen Konzert mit meinem Vater. Da war ich zehn. Die Harfenspielerin dort sah aus wie die Elfen in meinem Märchenbuch. Papa fand heraus, dass sie auch unterrichtete. Er meldete mich an."
"Maurice?", fragte eine Stimme.
Ein kleines Mädchen, höchstens dreizehn, das stark nach Alkohol roch kicherte und fragte: "Könnten wir ein Selfie machen?"
"Wieso?" Maurice stellte sich dumm. "Keine Ahnung, mit wem du mich verwechselst, aber ich heiße Phillip und würde es begrüßen, wenn du mich und meine Freundin jetzt wieder in Ruhe lässt."
Ihre Augen wurden groß. Ihre Freundinnen lachten sie hinter vorgehaltener Hand aus. Die Kleine wurde purpurrot und strich sich die kaputten, mausbraunen Haare aus dem Gesicht. "Sorry", nuschelte sie und schlug der Freundin, die direkt neben ihr stand, platinblond in mörderisch hohen Schuhen, auf den Arm.
"Das war aber kein feiner Zug", sagte Mara.
"Am Ende hätte ich auf ihren nicht vorhandenen Titten unterschreiben müssen", erwiderte er trocken. "Glaub mir, es ist lästig. Tagsüber bin ich kaum draußen deshalb."
"Ich hätte mich nie getraut, dich anzusprechen. Auf der Straße. Ihr Rapper seid auch nur Menschen und wenn ich mir vorstelle, wie mich Leute anhalten, weil sie Autogramme und Fotos möchten ... Nee, lass mal. Deswegen wohne ich in Berlin. Es gibt nichts Besseres als Anonymität."
"Denk ich nicht. Ich hab meine Anonymität damals bewusst aufgegeben."
"Du warst ein Jahr älter als ich jetzt. Außerdem hast du ADHS auf geringer Stufe." Mara lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er lachte, obwohl er ihr nicht zustimmte. Er würde sich immer wieder so entscheiden.
Mara oder Karriere? Die Frage tauchte ganz plötzlich in ihm auf. Das war eine Sache der Zukunft. Überhaupt: Solche Fragen stellten sich im wahren Leben nie.
Aber ... sie, ganz klar. Momentan jedenfalls.
Sie pfiff. Ein paar der Melodien erkannte er. Die Tonabfolge, die die Olle in den Tributen von Panem erfunden hatte, Für Elise ...
Andere waren ihm ein Rätsel. Die gefielen ihm besser. Sie klangen wie aus einer anderen Welt.

Mara begrüßte Patrick am Eingang. Er war der alte Nachtwächter und schon so viel länger an der Philharmonie als Mara.
"Darf ich ihn mitnehmen? Bitte, bitte, Patrick", bettelte sie.
"Nur weil du es bist." Der Grauhaarige tätschelte ihr den Kopf.
"Danke, du bist der Beste." Sie gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und rauschte, Maurice im Schlepptau, in den Konzertsaal.
Kaum saß sie an ihrem majestätischen Instrument, begann sie zu spielen. Sie entschied sich für eines ihrer frühen Stücke, eins, das sie komponiert hatte, um ihrem Lieblingsbuch zu huldigen.
Maurice fand, es klang wie Vogelzwitschern und das Rauschen der Blätter im Wind.
Dann ging sie fließend über in ein Lied, das sie ihm gewidmet hatte.
Mara liebte dieses Lied. Es war ihr gelungen, das, was sie fühlte, wenn er sie küsste in Noten zu bannen. Den Prozess, in dem sich ihr Körper in dieses luftig leichte Etwas verwandelte, die Passion, die er ihr entgegenbrachte mit seiner Berührung, seine Körperwärme und den Duft, den er verströmte; dieser Duft von Sicherheit, Frische und Kindheit. Das pure Hochgefühl; alles, was sie spürte in Maurice' Nähe.
"Das war ... schön." Er war um Worte verlegen. Wenn sie spielte sah sie noch jünger aus. Als hätte er die Zehnjährige vor sich, die das Spielen gerade erst begonnen hatte.
"Danke. Es handelt von dir." Sie strich sich die blonden Wellen hinters Ohr.
"Du schmeichelst mir. Der Song müsste eigentlich krumm und schief sein."
"Nein."
Einsilbigkeit ist eine wertvolle Eigenschaft, dachte Maurice.
Er ging auf sie zu und sie ließ sich von ihm aufrichten.
"Weißt du was, Mara Jasephin Plinta?", sagte er gegen ihre Lippen.
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Ich liebe dich."
Es waren die drei Worte, die ihm auf der Zunge gebrannt hatten, seit sie ihn angesprochen hatte auf dem Konzert. Er zählte diese drei Worte zu den wenigen Wahrheiten, die er kannte. Er, Maurice Druger, liebte sie, Mara Jasephin Plinta.
"Ich liebe dich auch", erwiderte sie flüsternd. Und zählte innerlich die Sekunden, nach denen sie erwartete aus diesem wundervollen Traum zu erwachen.
Er küsste sie und blendete ihre Zweifel kurz aus.
Konnte man an gebrochenem Herzen sterben?
Wenn sie aufwachte, wäre ihr Herz gebrochen. Wenn das wirklich nur ein Traum war. Dann würde sie sterbe. Sofern das möglich war.
Aber jetzt war jetzt.
Sie erinnerte sich an ein Buch, dass sie in der Grundschule gelesen hatte, weil es zum Unterrichtsstoff gehörte. Ben liebt Anna. War sie Anna? Sie konnte sich nicht mehr an vieles erinnern, aber sie wusste, es war eine traurige Geschichte gewesen. Traurig, aber unendlich wunderschön.
Mara liebte Maurice und Maurice liebte Mara.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt