Die Filme, in denen die Liebsten der Protagonisten entführt wurden, hatte Mara nie verstanden. Die Hauptfiguren wandten sich nie an die Polizei oder Freunde und Familie. Immer war sie der Meinung gewesen, so verhielte sich kein Mensch, der bei klarem Verstand wäre.
Als Evelyn sie besorgt anrief und ihr erzählte, dass Leon nicht nach Hause gekommen war, biss sie sich fest in den Finger, um nicht zu schluchzen. Stattdessen sagte sie beherrscht, sie wüsste nicht, wo er steckte, bei ihr sei er nicht.
Das war nicht gelogen ... Doch jetzt war sie eine von denen. Schwieg, über das, was sie wusste. Zu groß war die Angst, Nick könnte Leon etwas antun. Die lächerlichen Filme waren vergessen.
Evelyns gehäufte Anrufe spät abends ignorierte sie komplett. Sie kauerte sich in ihren Sessel, hörte zu wie ihre Mutter ihr verzweifelt aufs Band sprach. Die Versuchung abzunehmen war unbeschreiblich hoch. Was wäre, wenn sie Leon gefunden hatten? Wenn er frei wäre? Evelyns von ständigen Heulkrämpfen gebrochene Stimme, sagte etwas anderes: Die Polizei hätte eine Hundestaffel ausgeschickt, Mara solle sich schnellstmöglich melden, Evelyn sei ganz allein und es ginge ihr überhaupt nicht gut.
Mara wäre zu ihr gefahren. Nicks seltene Stalkerqualitäten fesselten sie an den Sessel in ihrem Wohnzimmer. Er würde sie verfolgen, sehen, wie sie mit Evelyn sprach; ihren kleinen Bruder deswegen umbringen.
Sie konnte nicht weg.
Maurice' Anrufe ließ sie genauso verklingen. Er probierte es ein paar Mal, legte auf, bevor die Mailbox anging. Bestimmt ist alles okay und sie quatscht nur mit Carol, dachte er. Da machte er sich noch keine ernsteren Sorgen, es war der erste Abend, seit er am Morgen nach Rostock gefahren war. Vielleicht war sie bei Leo und hatte deshalb keine Zeit für ihn, verätzte ihn die finstere Vorstellung.
Tatsächlich war er nicht weit von der Wahrheit entfernt. Maras Gedanken drehten sich um einen Jungen, den nur ein einziger Buchstabe von Leo trennte.
Eine Nummer, die sie nicht kannte, wurde auf dem Display ihres Handys angezeigt. Maurice, der ihr eine Falle stellte und mit dem Handy eines anderen telefonierte? Nein, Maurice vertraute ihr, auch wenn er sich hin und wieder krankhaft eifersüchtig benahm.
Nick?
Blitzschnell ging sie ran. "Hallo?", fragte sie atemlos.
"Schön, deine Stimme zu hören. Ausnahmsweise mal ohne diesen verachtenden Unterton", schnurrte Nick.
Ihr Atem beschleunigte sich.
"Na, na, hast du etwa Angst Mara?", fragte er. "Dreh dich um."
Er war still und in Zeitlupe sah sie hinter sich. Es war niemand da.
Er lachte in den Apparat.
"Wo ist er?!", schrie sie ihn an und sein diabolisches Gelächter stoppte abrupt.
"Fürs Erste geht es ihm gut, das sollte dich doch eigentlich viel mehr interessieren. Nicht wahr, Leon?"
Mara hörte ein Rascheln und kurz darauf ihren kleinen Bruder.
"Jasi", sagte er schwach.
Mara sprang auf. "Leon, bist du in Ordnung?" Dabei fegte sie eine Blumenvase vom Glastisch, mit weißen Rosen, die ihr Maurice geschenkt hatte.
"Hast du schon Schluss gemacht?" Wieder Nick.
"Ich will mit meinem Bruder sprechen", forderte sie wütend.
"Oh. Das geht sobald du ihn abserviert hast."
"Du bist so ein dummes Arschloch", zischte sie. "Lass meinen Bruder in Ruhe."
"Tja, wo ist er denn bloß, dein feiner kleiner Bruder?", sang er. "Ich kann dich sehen, Mara; bei dir ist er nicht."
Ihr lief es eiskalt den Rücken runter. Sie lief zum Fenster, observierte die gegenüberliegenden Häuser auf verdächtige Hinweise, aber in allen brannte Licht, flackerten Fernseher, nirgends zeichnete sich eine menschliche Silhouette hinter der Scheibe ab.
Energisch zog sie die Gardinen zu.
"Jedenfalls warst du ein gutes Mädchen bisher", fuhr Nick fort. "Bist nicht zur Polizei gelaufen oder zu Mama."
"Ich gebe dir Geld", bot Mara an.
"Ich will kein Geld!", brüllte er plötzlich. "Ich will deine Liebe!"
"Du willst sie erpressen?", krächzte sie.
"Wenn es sein muss!"
"Du kannst sie nicht kaufen, deshalb versuchst du sie zu erpressen?", löcherte sie ihn weiter.
"Ich bin Schriftsteller, Nutten konnte ich mir nie leisten, du hast mir deine Liebe freiwillig gegeben."
"Das ist vorbei, Nick."
"Eben. An meiner finanziellen Situation hat sich nichts verändert, also muss ich auf andere Mittel zurückgreifen. Eigentlich ist es deine Schuld, dass Leon hier geknebelt neben mir sitzt, Mara."
Viel schlimmer als seine bloßen Worte war, dass sie Mara am exakt richtigen, wunden Punkt trafen. Er hat Recht, dachte sie. Schockiert begann sie die Schuld bei sich selbst zu suchen. Wo sonst sollte sie liegen?
Tränen tropften von ihrer Nasenspitze, rannen ihre Wangen herunter.
"Weinst du, Mara?", säuselte Nick.
Panisch drehte sie sich um sich selbst. Alle Vorhänge waren zu. Eine Tür knallte. Ihr Herz pochte schneller und schneller.
"Was war das?", kam es von Nick.
Langsam tippelte sie in den Flur. Die Schlafzimmertür war zugefallen. Die Balkontür! Sie hatte sie offen gelassen. War er etwa ...?
Das Handy noch immer am Ohr sprintete Mara in die Küche, pfriemelte den Schlüssel der Wohnzimmertür aus der Besteckschublade und sperrte sich hektisch ein.
Er war hier. Er musste hier sein. Aber Leon ...?
"Soll ich dich beschützen, Schatz?"
Sie hatte sein verrücktes Grinsen deutlich vor Augen, hyperventilierte.
"Geh weg!", kreischte sie schrill. Der animalische Fluchtinstinkt war ihr ins Gesicht gebrannt. Sie fixierte die Tür, alle Muskeln angespannt, sprungbereit um Nick die Augen auszukratzen, sobald er den Raum betreten würde.
"Ich gehe und nehme Leon mit, einverstanden?"
"Nein!"
"Entweder behältst du deinen Neuen und legst deinen Bruder eigenhändig auf die Schlachtbank oder du kehrst zu mir zurück und Leon bleibt am Leben. Ich setze dir eine Frist von zwei Wochen. Triff deine Entscheidung weise, Schatz."
"Nick", rief sie mutlos. Das Telefon tutete. Er hatte einfach aufgelegt.
Weinend fiel sie zu Boden, trommelte mit ihren Fäusten auf die Holzdielen, bis ihre Fingerknöchel blutig waren.
Nick. Schlag. Hatte. Schlag. Leon. Schlag.
Nick. Schlag. Würde. Schlag. Leon. Schlag. Töten. Schlag.
Nick. Schlag. Erpresste. Schlag. Sie. Schlag.
Tränen und Blut vermischten sich. Er hörte, sah, wusste alles.
Sie schwebte in Gefahr. Leon schwebte in Lebensgefahr.
Sie durfte nichts sagen, sonst würden beide leiden.
Mara war ganz allein mit sich auf dieser Welt. Ganz allein mit ihrem Wissen. Ganz allein mit ihrer holistischen, alles verschlingenden Angst. Die Welt färbte sich schwarz ...
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Blau wie wir
RomanceMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...