35. Kapitel

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1. "Leo, lass das!", lachte Mara, während Besagter sie durchkitzelte.
Ihr erstes Treffen war jetzt zwei Wochen her. Seitdem hatte Leo Carol, Kurt und das Kollektiv kennengelernt.
Jeder mochte ihn. Jeder. Außer Maurice. Er saß in ihrem Sessel, der so graublau war wie der Himmel draußen.
"Du schaust wie drei Tage Regenwetter", grinste Kurt ihn an.
"Ich hau ab", erwiderte er, stellte das unangefangene Bier vor seinem Kumpel auf den Tisch und verließ die Wohnung seiner Freundin.
Er ging nicht sofort. Lehnte sich unten an die Gebäudewand und steckte sich eine Zigarette an. Die kühle Abendluft presste wohltuend gegen seine brennenden Lider.
Er hörte Schritte im Treppenhaus. Getrieben von der Panik, es könnte einer von oben sein, der sein Fehlen bei der kuschelig kleinen Hausparty bemerkt hatte, im schlimmsten Fall Mara selbst, lief er schnellen Schrittes zur U-Bahn.
Er brauchte die anderen, die Band; seine Jungs.
Es floss eine Menge Alkohol, als sie sich zu viert in Tariks Wohnzimmer quetschten.
"Du hast dir da 'ne echte Verantwortung aufgeladen, Maurice", murmelte Niko in seine Flasche.
"Hä?", machte Tarik intelligent.
"Na, die Kleine kann ihr Leben ja kaum selbst bestreiten", palaverte Niko locker weiter. Seine Lust zu reden wuchs proportional zur Promillezahl.
"Halt den Mund", nuschelte Maurice. Er hatte viel intus, aber nicht genug, damit sein Verteidigungsreflex, was Mara anbelangte, geschrumpft wäre.
"Jeanne sagt, sie wollte sich schon mal umbringen", mischte sich Sinan ein und Maurice schoss ihm einen finsteren Blick zu.
"Stimmt das?", hakte Tarik ungläubig nach.
Er gab auf. Was nützte es überhaupt, die Dinge noch zu beschönigen? Ein Nicken von ihm und das Bild, das die Drei bisher von Mara hatten war futsch.
"Scheiße", kam es über Tariks Lippen.
"Also, jetzt erklär das nochmal", warf Niko in die Runde. "Da ist dieser Spast, den sie angesprochen hat. Und mit dem feiert sie gerade."
"So sieht's aus", resignierte er.
"Und sie hat dir nicht geschrieben oder dich angerufen, obwohl du seit -" Er fixierte mit zusammengekniffenen Augen sein Handydisplay. "Fast drei Stunden weg bist."
"Super Bestandsaufnahme, Niko", spottete Tarik.
"Ja, Mann, was soll ich denn tun?"
"Jeanne schreibt, dass sie gleich alle gehen", meldete sich Sinan. "Nur dieser Leo wird bleiben."
Maurice ballte die Fäuste. Leo hier, Leo da, Leo dort, dachte er. Frustration machte sich in ihm breit.
"Alter, das ist dein Mädchen. Du sagst doch, sie verträgt nichts. Du musst dahin, bevor der Idiot auf dumme Ideen kommt", rief Tarik.
"Oder sie", setzte Sinan nach.
Als er sich nicht regte, klopfte Niko ihm ermutigend auf die Schulter.
"Geh schon. Alles, was wir seit Monaten von dir hören, ist wie sehr sie es wert ist."
Mara lag auf ihrem Bett und lächelte die stuckverzierte Decke des Altbaus an.
Leo hatte sich auf der Kante niedergelassen, einen ganzen Meter entfernt. Er wusste, wie besoffen sie war und konnte sie nicht alleine lassen, wenn er ihr nicht wenigstens einen Eimer zum Kotzen angeboten hatte.
Sie kicherte verrückt und strich seinen Rücken auf und ab.
"Lass das", bat er sie.
"Was? Das?", fragte sie provokant und machte weiter.
Leo stand auf, bedankte sich für den Abend und riet ihr, sich schlafen zu legen.
"Willst du schon gehen?", schmollte sie.
"Ich mein's ernst, schlaf dich aus und dann reden wir vielleicht morgen weiter", antwortete er und fand sich im Treppenhaus wieder.
Jemand schubste ihn grob und pinnte ihn mit seinen Armen an die Wand.
"Du schon wieder", zischte Maurice.
Leo entschied sich, die Gegenwehr zu vertagen und versuchte ruhig zu atmen. "Sie ist in ihrem Schlafzimmer und ich hoffe, sie schläft."
"Hat sie auch noch alle ihre Klamotten an? Denn wenn nicht, werde ich dich finden und dann gnade dir Gott", knurrte Maurice.
Leo roch den Alkohol in seinem Atem. Gelähmt von dem Gestank, zögerte er, was Maurice' ungeschärfte Sinne falsch interpretierten.
"Ich hasse dich!", brüllte er.
"Ich hab ihr nichts getan, ich schwöre es dir", bemühte sich Leo um einen ruhigen Ton, aber die aufkeimende Angst war hörbar. Er schätzte Maurice als besiegbar ein, andererseits wusste er nicht, zu was allem der in diesem Zustand fähig war. Wütend, mit Adrenalin und Alkohol vollgepumpte Adern und ein paar Zentimeter größer als er. Da würden ihm seine sechs Gramm mehr Muskelmasse auch nicht helfen können.
"Ich hab dich von Anfang an gehasst", fügte Maurice bedrohlich hinzu.
Sie starrten einander noch einen intensiven Moment lang in die Augen. Dann ließ Maurice ihn los und sprintete die restlichen Treppen hinauf, während Leo sie hinunter rannte.
Maurice schloss auf und wurde von ungezähmter Stille empfangen.
"Mara?", fragte er leise, nachdem sein Puls auf normales Level zurückgekehrt war.
Sie schlief tatsächlich. Maurice war erleichtert. Aber es missfiel ihm, dass Leo, dieser Sack, mit seinen Behauptungen Recht behalten hatte.
Er legte sich zu ihr, zog sie an sich. Gott, wie er sie liebte. Auch der viele Alkohol konnte diese Emotion nicht überdecken.
"Wo sind die anderen?", gab sie unverständlich von sich. Ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass er fort gewesen war? Seine Gesichtszüge verzogen sich in Traurigkeit.
Sie sagte noch etwas. Worte, die er gar nicht ausmachen konnte.
"Schlaf jetzt", befahl er sanft. Unnötigerweise, denn sie war schon in ihren Träumereien versunken.
"Ich liebe dich", flüsterte er trotzdem.
Mara erwiderte nichts. Egal.
Momentan reichte Maurice das Gefühl, ihres an ihn gepressten Körpers und wenn ihre Figur noch so zierlich war, wegen ihrer Depressionen.
Er küsste sie auf den Haaransatz und versuchte jeglichen Gedanken an Leo zu verbannen.
Tarik hatte ihm geschrieben:


Tarik E.: Dude, bist du bei ihr? Geht's ihr gut? Ist der Arsch weg?
Maurice D.: Ja, ja und ja. Sie schläft jetzt. Ich bin ihm im Treppenhaus begegnet.
Tarik E.:
Fuck, hast du noch alle Zähne?
Maurice D.:
Er bekommt 'nen fetten Bluterguss am Hals. Ich glaub, ich hab ihn ein bisschen gewürgt.
Tarik E.:
Na ja, immer noch besser als umgekehrt.


Maurice legte sein Handy beiseite und strich Mara eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.
Er begriff irgendwann: Der allumfassende Hass, den er Leo entgegen brachte und die allumfassende Liebe, die er für Mara verspürte, löschten sich gegenseitig aus. Was blieb, waren die kreischenden Kopfschmerzen, hervorgerufen durch seinen heutigen Alkohol-Konsum.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt