39. Kapitel

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Gegen 7 Uhr morgens rief Maurice Sinan an. Er war auch wach und so wollten sie sich im Fitnessstudio treffen.
Beide hatten das Bedürfnis zu reden. Maurice erzählte von ihrem Streit und der anschließenden Versöhnung mit Mara gestern.
"Es ist, als würden diese Streitereien vom Himmel fallen. Davor noch unfassbar guter Sex und dann plötzlich diese sinnlose Diskussion", beklagte er sich.
"Irgendwo hat sie ja Grund zur Besorgnis", argumentierte Sinan. "Bloß weil du mit ihr zusammen bist, heißt das schließlich nicht, dass deine Karriere auf einmal beendet wäre. Und Groupies gehören zum Musikbusiness dazu, das kannst du nicht leugnen."
"Ich liebe sie, Sinan. Die Groupie-Zeiten sind vorbei. Gib es zu: Es macht müde und wird auf Dauer langweilig."
"Wenn du die Mädels auf den Konzerten fragst und sie die Wahl zwischen dir und Niko haben, kriegst du in neunzig Prozent der Fälle Maurice als Antwort", behauptete Sinan felsenfest.
"Hast du die Umfrage gemacht?", konterte Maurice bissig.
"Hey, ich bin auf deiner Seite, immer, vergiss das nicht. Ich sag doch bloß, dass du schon Recht hattest mit dem, was du ihr an den Kopf geworfen hast. Sie muss lernen dich wertzuschätzen, sonst kommt da nur der berühmte Satz mit X raus, Kumpel", verteidigte sich Sinan.
"Bin ich anhänglich? Sei ehrlich", wollte Maurice wissen.
Sinan verdrehte die Augen. "Kann ich schlecht beurteilen. Als Freund: Nein. Als Maras Freund: Kein Plan ... Geht's ihr wenigstens besser, jetzt, wo du wieder da bist?"
"Denke schon. Sie wiegt wieder so viel wie früher und hat aufgehört, sich zu ritzen."
"Sie hat sich geritzt?"
Diesmal verdrehte Maurice die Augen.
"Sorry", nuschelte Sinan betreten.
Maurice winkte ab ...
"Kapierst du's nicht? Das ist doch das Einzige, dass eure Beziehung kaputt machen kann: Eifersucht", gab Carol zu bedenken.
Mara nickte verstehend. Sie drehte den Zettel, den er ihr am Morgen hinterlassen hatte zwischen den Fingern.
Ihre beste Freundin schenkte sich einen Bailey's nach dem anderen ein. Frust auf Kurt, vermutete Mara. "Apropos", fiel es ihr ein. "Ich weiß was, was bei Eifersucht hilft."
Mara blickte fragend auf.
"Los, komm", spornte sie sie an.
Seufzend ließ sie sich aufhelfen und holte ihr blütenweißes Sommerkleid aus dem Schrank. "Bin gleich fertig", verschwand sie im Bad. Niemals würde sie in Jogginghose das Haus verlassen, auch wenn sie keinen, der es tat, zum Beispiel Maurice, dafür verurteilte. Ihr Vater hatte das als gesellschaftliches Grundgerüst bezeichnet: Selbst machen und machen lassen. Der am weitesten ausgedehnte Begriff von Freiheit, den sie in ihrer Weltanschauung verankert sah.
"Mach mal hinne", quengelte Carol, während sie nervenaufreibend wie Sheldon aus The Big Bang Theory gegen die verschlossene Tür klopfte.
Mara nahm zwei Spangen aus ihrem Korb mit sämtlichem Haarzeug und pinnte ihre blonden Wellen links und rechts hinter die Ohren. Das ging gut mit dem Kleid zusammen. Es sah mehr aus, als hätte der Designer eine leicht durchsichtige Hemdbluse mit einem luftig-leichten Plissee-Rock kombiniert.
Weil sie Carol bösartig ein paar Minuten länger warten lassen wollte, legte sie noch rasch das Wichtigste an Schminke auf, bevor sie in ihre schneeweißen Adidas Superstars schlüpfte.
"Auf geht's", provozierte sie mit ruhiger Stimme, doch Carols Ärger verflog schon, als sie auf die lebendige Straße traten.
Es war unüblich sonnig für diese Jahreszeit und sie genossen die Wärme auf ihrer Haut.
Carol stieg mit ihr an der Prenzlauer Allee aus. Mara rümpfte missbilligend die Nase über die versnobte Gegend. Obwohl es streng genommen ihr eigener Kiez war.
Carol hopste auf einen Laden mit der auffälligen Aufschrift Belinskis zu. Ihr Nachname, dachte Mara.
Schon fand sie sich in einem ganzen Palast wieder. Einem Palast voller Unterwäsche.
"Carolin!" Eine genauso kleine Frau mit blond gefärbten, toupierten Haaren und einem eher rundlichen Gesicht, obgleich sie sonst sehr schlank war - ihr Fett saß an den exakt richtigen Stellen - schloss Carol sehnlichst in ihre Arme.
"Hallo Mama."
Das war also die externe Geldquelle, die sie vor kurzem auf Maras Frage hin erwähnt hatte. Carols Familie verkaufte Dessous jeder Art und Sorte.
"Das ist Mara. Mara muss ihren Freund beeindrucken und jeglichen Anflug von Eifersucht beseitigen."
"Da finden wir bestimmt was Schönes", nickte Anja Belinski und steuerte zielsicher auf eine Warenauslage im hinteren Teil des Geschäfts zu.
"Hat er eine Lieblingsfarbe?", fragte Carols Mutter professionell.
"Rot", erinnerte sich Mara.
"Und deine eigene Lieblingsfarbe ist ...?"
"Blau."
"Blau wie seine Augen", grinste Carol und Mara haute ihr auf den Arm.
"Ein kühles, blaustichiges Rot also", murmelte Anja und kramte durch die schier endlosen Möglichkeiten. "Weißt du, Süße, klar, suchen wir etwas, das hauptsächlich ihm gefällt, aber du solltest dich genauso wohlfühlen", erläuterte sie das Prinzip.
"Aha!", rief Carol aus und hielt triumphierend ein Modell der gesuchten Sorte hoch.
Es war im Dekolleté wunderschön geschnitten, elegant und herzförmig. Nicht überladen, bloß hier und da mit Rüschendetails sowie Ziersteinchen versehen. Und diese Farbe erst. Hingerissen fühlte Mara das edle Material, ähnlich wie Satin, aber es ihre Fingerspitzen leiteten die Information weiter, dass es sich wohl um etwas wertvolleres handelte.
"Kein Push-Up. Brauchst du nicht. Stützt aber ausgezeichnet", deklarierte Carol fachmännisch.
"An dir geht uns wirklich eine fähige Mitarbeiterin verloren, Schatz", seufzte die ihre Mutter. Stolz blickte sie ihre Tochter an, die Mara in eine Umkleidekabine schob und ihr den BH reichte.
"Ich bin so betrunken, dass ich gerade wieder darüber nachdenke, doch noch einzusteigen."
Ihre Mutter machte ein unzufriedenes Geräusch.
Es war nicht nur die Flasche Bailey's gewesen heute. Carol hatte davor bereits den Amarula geleert, den sie bei ihrer Ankunft dabei gehabt hatte ...
Nachdem der Kauf getätigt war, bestand Carol darauf einen teuren Lippenstift in der passenden Farbe zu kaufen und ihre beste Freundin zu schminken.
Als sie endlich gegangen war entfernte Mara das Make Up wieder. Es gefiel ihr nicht, seine Aufmerksamkeit sollte schließlich auf den neuen Sachen liegen.
Generell wirkte sie allein durch die Unterwäsche aufgestylt. Und der Schmodder in ihrem Gesicht war schwer und nervte.
Sie wusch alles ab, cremte ihre Haut ein, legte sich mit einem Buch aufs Bett und wartete geduldig.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt