Wieso war er so übervorsichtig?
Maurice schaute nach Mara, die sich in dem Haufen aus Kissen und Decken vergraben hatte und stellte sich eben diese Frage. Er hatte sie jetzt über eine Woche jeden Tag gesehen und wurde ihrer genauso lange schon nicht überdrüssig. Mittwoch hatte er eingesehen, dass er sich wohl oder übel in sie verliebt hatte, aber ihr seine Nummer zu geben oder sie zu ihm nach Hause zu führen, verbot ihm sein Verstand. Maurice hatte gehofft, mit dem Einzug in Maras neue Wohnung würde für ihn alles einfacher werden und er könnte vergessen, dass sie achtzehn war, die Schule noch nicht beendet hatte und dass sie ein Fangirl war.
Es hingen Poster an den Wänden und das machte es nicht unbedingt leichter, da sein Selbst auf ihn herabsah. Er konnte nicht leugnen, wie unwohl er sich in Maras Schlafzimmer fühlte.
Abgesehen davon hatte er ernst gemeint, was er ihr von sich in der Rolle des festen Freundes erzählt hatte. Wenn er jetzt abhaute, konnten sie vielleicht beide wieder ihr normales Leben leben. Das war eine Fehlannahme. Sie hatte ihm gesagt, dass sie es nicht ertragen würde, wenn er fort wäre. Mara traurig zurückzulassen, war das Letzte, das er wollte. Ihm war absolut klar, dass das Loch, das sie in seinem Leben hinterließe, genauso groß wäre. Wenn er wieder auf Tour ging, würde er sie vermissen. Apropos Tour: Bei Niko, Tarik und Sinan hatte er sich nicht mehr gemeldet und bei Tarik war er sicher, dass der genau wusste weshalb. Sie kannten einander zu gut.
Maurice bewegte sich so geräuschlos wie möglich ins Bad, danach in die Küche, wo er Kaffee kochte und Maras einziges Lebensmittel neben Bier zurzeit aus einem der Schränke holte: Cornflakes. Milch fehlte auch, also befüllte er zwei Schüsseln und leerte seine trocken und im Stehen. Kurzzeitig überlegte er, Maras Frühstück mit Bier zu übergießen, aber gerade als er die dafür auserkorene Flasche öffnen wollte, tapste Mara ins Zimmer.
"Ich sehe, du bedienst dich", lachte sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb.
Er sagte nichts, sondern kippte das Bier über ihrer Schüssel aus und reichte sie ihr, freundlich lächelnd.
Mit den Worten: "Du bist ein Vollidiot", stellte sie die Schale auf die Arbeitsplatte und begann, eine Einkaufsliste zu verfassen.
"Du hast gar nicht probiert", beschwerte Maurice sich.
"Du darfst meine Portion gerne aufessen", lächelte sie falsch, dafür aber zuckersüß.
Maurice nahm einen Löffel und verzog keine Miene. Es schmeckte scheußlich. Als er schluckte, lachte sie sich scheckig.
"Mara, beruhig dich mal kurz", bat er sie.
Sein ernster Ton ließ sie aufhorchen. Was kam denn jetzt?
"Was ist das eigentlich zwischen uns?", fragte er und traf, nachdem er eingehend ihre Figur bewundert hatte, die in einem zu langen Pulli versank, ihre Rehaugen.
"Ähm ... Also, die Frage hat meine Mutter mir letzte Woche ziemlich of gestellt." Mara hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte, aber wenn sie eins ganz genau wusste, dann war es, dass sie nicht nur auf Maurice stand, nein, sie hatte sich eindeutig in ihn verliebt, als er diese Cornflakes mit Bier runtergewürgt hatte. Das war nicht der romantischste Moment zwischen ihnen gewesen, aber bei ihr hatte es den Schalter umgelegt. "Ich hab mich in dich verliebt", sprach sie zögernd die Wahrheit aus. "Und ich würde dich sehr gerne meinen Freund nennen, auch wenn ich dir glaube, dass du ein schlechter Freund bist."
Maurice' Herz hüpfte. Leute verwirren, darin war sie gut. Vor allem ihn. Und wenn sie ehrlich war, wollte er das auch sein.
"Ich bin's auch schon längst, aber ich hab Angst, weil ich nicht vergessen kann, wer du bist. Dass ich dich nach diesem Konzert aufgelesen habe und dass du die Schule noch nicht beendet hast; dass du bis gestern bei deiner Familie gewohnt hast und dass du riesiger FIA-Fan bist", sagte er.
"Das ist ein Teil von mir. Aber ich bin Mara Jasephin Plinta, ich werde demnächst ins Hotelgewerbe einsteigen, ich verbanne meine beste Freundin stückweise aus meinem Leben, ich bin nur ein kleines Mädchen, dass immernoch versucht den Tod ihres Vaters zu verarbeiten und die Tatsache, dass meine beiden Geschwister jederzeit genauso krepieren können. Ich hab mich verdammt nochmal in meinen Lieblingsrapper verliebt und weigere mich eine Psychiaterin aufzusuchen, die ich eigentlich dringend nötig habe, weil ich weiß, dass mich das nächste schlimme Erlebnis, das ich durchmachen muss, zusammenbrechen lassen wird wie ein Kartenhaus."
Maras Gesichtsausdruck war unbewegt. Jetzt wusste er Bescheid über all ihre Abgründe; dass sie labil war.
Maurice verkniff sich die Standardphrase: Es tut mir leid.
"Erzählst du mir davon? Ich schätze, wir sind zusammen und als der schlechteste feste Freund der Welt will ich wissen, wie dein Vater gestorben ist", sprudelte es aus Maurice heraus.
"Ich habe dich vorgewarnt", betonte sie. "Du bist jetzt offiziell mit einer Verrückten zusammen."
"Mit Mara Jasephin Plinta." Maurice hob sie hoch. "Ab heute bist du mein böses Mädchen. Geistig instabil, aber hübscher als Megan Fox vor ihren Schönheitsoperationen."
Er küsste sie und sie schmiegte sich an ihn.
"Du solltest dich setzen, bevor ich dir von der ganzen Scheiße erzähle, die mir bisher so wiederfahren ist", sagte sie nüchtern. Mara war überschwemmt von Glückshormonen. Es würde gut tun, alles auszupacken, loszuwerden, auf den Tisch zu knallen. Obwohl sie in den letzten Tagen festgestellt hatte, dass Maurice offenbar tatsächlich ein Vorstufe von ADHS mit sich herumschleppte und deshalb ein schlechter Zuhörer war, half es ihr schon, ihm einfach dabei zuzusehen wie seine Unruhe überhandnahm und er anfing auf seinem Sitzplatz hin und her zu rutschen, Servietten zu zerfetzen, mit den Fingern zu trommeln. Dass er da war, zählte.
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Blau wie wir
RomanceMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...