47. Kapitel

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Maurice wurde durch die schrille Klingel geweckt.
Mara schlief noch immer den tiefen Schlaf der Erschöpften und das sollte auch so bleiben.
Er sprang auf, schlich auf leisen Sohlen in den Flur und hob den Hörer ab.
"Jo, Maurice!", rief ein ziemlich aufgedrehter Fremder.
"Wer genau ist da?", wollte er wissen.
"Na komm, mach schon auf", bettelte der Unbekannte.
"Vergiss mal", schnaubte er und legte auf.
Problematisch war nur, dass der Typ gar nicht mehr aufhörte zu schellen.
Zusätzlich dazu, klopfte auch noch jemand an seiner Wohnungstür.
Seine Nachbarin.
Die hat mir gerade noch gefehlt, dachte er und öffnete, ohne sich darum zu scheren, dass er lediglich mit einer blau-karierten Boxershorts bekleidet war.
Statt höflich wie beim letzten Mal, verhielt er sich diesmal ruppig ihr gegenüber. "Was willst du?", schnauzte er die kleine Studentin an.
"Ehm", stotterte sie. "Ich will mich nicht einmischen, aber da stehen gut zwanzig Leute vor der Haustür und ein paar von ihnen haben bei mir geklingelt und gesagt, dass sie zu dir wollen."
"Hast du einen von denen reingelassen?", fragte er mit einem leichten Anflug von Panik in der Stimme.
"Nein", schüttelte sie den Kopf.
Maurice hörte es nur halb. Er ließ die Tür offen stehen, sie davor, und rannte zum Fenster, das den Hauseingang zeigte.
"Scheiße", murmelte er in ungewohnt hoher Tonlage.
Seine Nachbarin war ihm gefolgt. "Ist alles in Ordnung?"
Er wandte seinen Blick von der Menschenmenge unten auf der Straße ab und durchbohrte sie mit seinen im kühlen Morgenlicht eisblau wirkenden Augen. Er packte sie unsanft an den Schultern und schüttelte sie, während er ihr eintrichterte: "Du lässt niemanden rein, hörst du? Niemanden. Keinen Postboten, keinen Pizzalieferanten oder Polizisten, kapiert? Niemanden!"
"Maurice, was machst du da?" Mara sah ihn aus vor Müdigkeit verkniffenen Augen an.
Sofort ließ er seine Nachbarin los.
"Nichts." Er ging zu Mara hinüber und küsste sie auf die Stirn. "Nichts", wiederholte er. "Geh wieder schlafen, Baby."
Mara zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. Er hatte sie noch nie mit einem Kosenamen belegt, geschweige denn beiläufig Baby genannt.
Er schob sie in Richtung Schlafzimmer, ohne ihr zu folgen. Mara präsentierte sich artig und warf ihm nur einen weiteren fragenden Blick zu, bevor sie im hinteren Teil der Wohnung verschwand.
Maurice drehte sich erneut zu seiner Nachbarin um und bugsierte die Studentin zurück ins Treppenhaus.
"Denk daran, was ich gesagt habe: Wenn jemand klingelt, auf keinen Fall aufmachen", ermahnte er sie noch einmal eindringlich.
"Aber -" Maurice schloss die Tür und verriegelte sie, indem er die Kette einhängte.
"Arschloch", hörte er sie draußen murmeln.
"Fuck", brach es aus ihm heraus und er rutschte an der weißen Wand herab auf das dunkle Parkett.
Er würde umziehen müssen. Hier konnte er nicht bleiben.
"Maurice?" Mara hockte sich zu ihm. Ihr Gesichtsausdruck war gepeinigt, sie biss sich vor Scham auf die Unterlippe. Carlo, dachte sie.
"Der Taxifahrer gestern", begann sie vorsichtig. "Also ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das war der Bruder von einer aus dem Hotel."
Er begriff nicht.
"Vielleicht hat er ..." Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende.
"Willst du mir sagen, du wusstest, dass der beschissene Taxifahrer mich kannte und meine Adresse ausplaudern würde?", knurrte er bedrohlich.
Da veränderte sich Maras Miene schlagartig. Wütend zischte sie: "Nicht du auch noch."
"Was ich nicht auch noch?!", fuhr er sie an.
"In den letzten Tagen hat mein kranker Psychopath von Ex-Freund meinen kleinen Bruder entführt, von dem absolut unklar ist, ob er dieses filmreife Geiseldrama überhaupt überleben wird. Gestern bin ich in mein verdammtes Elternhaus in Potsdam eingebrochen und habe einen verfickten Sportwagen geklaut, um dort hinzufahren. Vor Wochen erst, starb meine Schwester und das einzige, was ich von allen Seiten an den Kopf geworfen kriege sind dämliche Vorwürfe!"
Sie war aufgestanden und für Maurice sah sie aus wie ein düsterer Racheengel.
"Ich sollte wirklich alle bitten, mir die Schuld für jede Kleinigkeit in die Schuhe zu schieben, denn anscheinend denkt ihr ja, ich könnte das wunderbar ab!"
"Mara -"
"Halt die Fresse! Ich rede! Willst du auch noch anfangen, Maurice, hä, willst du?! Reichlich spät im Vergleich zu allen anderen, aber du warst schließlich auf Tour, da hat man eben keine Zeit für die eigene Freundin, nicht wahr?!"
Er nahm ihre Hände, sie riss sich los, er umfasste ihren Körper, sie zappelte und wehrte sich.
"Es tut mir leid!", entschuldigte er sich und versuchte ihr Geschrei zu übertönen.
Nach etwa sieben Minuten Tortur, ließen ihre Kräfte nach. Sie hörte auf Widerstand zu leisten, sodass er sie auf der Couch absetzen konnte, wo sie sich zusammenkrümmte und ihn anklagend ansah.
Im Schneidersitz ließ er sich vor ihr auf dem Boden nieder.
"Erzähl. Von vorne. Und schön langsam, damit ich auch mitkomme."
Erwartungsvoll starrte er zurück.
Mara lachte trocken, bevor seine blauen Augen sie bezwangen und sie die Ereignisse der Zeitspanne schilderte, in der Maurice nicht anwesend gewesen war.
"Danke", nuschelte sie, als sie fertig war. "Fürs Zuhören und so."
Nachdenklich sah Maurice aus dem Fenster. Die Leute lungerten immer noch draußen herum.
"Sobald sie weg sind, fahren wir zu mir, da bist du erstmal geschützt", plante Mara laut.
Er hätte beinah aufgelacht. Das Wort Schutz aus ihrem Mund zu hören war feinste Realsatire.
Mara setzte ihn zusammen, aber ebenso häufig riss sie ihn auch auseinander. Als sei er zersplittert und sie diejenige, die das Mosaik aus bunten Glasscherben erschuf.
Jetzt gerade wischte sie sich die Tränenreste aus dem hübschen Gesicht, zupfte ihr langes T-Shirt zu Recht und richtete sich selbstbewusst auf.
Diese Momente zum Beispiel waren ihm heilig: Wenn sie nicht nur ihn, sondern viel mehr noch sich selbst zusammensetzte. Er sah gerne dabei zu, beobachtete den relativ kurzen Prozess.
"Weißt du noch, wie du mal meintest, du wärst ein schlechter fester Freund? Und du hättest Angst mich zu enttäuschen?", grübelte sie. "Ich bin eine schlechte feste Freundin. Und du kannst mich nicht enttäuschen. Nie. Egal was du machst, ich werde nie Enttäuschung dabei fühlen können."
"Mara?"
"Hm?"
"Du bist wirklich eine schlechte feste Freundin."
Sie lächelte. "Gemeinsamkeiten", stellte sie fest. "Gleiche Meinung und so."
"Sag nicht immer und so."
"Ich liebe dich und so."
Er küsste sie.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt