Maurice war frisch geduscht. Mara nahm den Geruch des Duschgels wahr, dass er benutzte. Er schlief friedlich. Ziemlich fest, wie es aussah. Die Tour musste ihm einiges abverlangt haben.
Sie strich seine Kieferlinie entlang und da er keine Reaktion zeigte traute sie sich, ihre Fingerspitzen wandern zu lassen. Über seine Wangenknochen, die Nase, beide Schläfen. Sie strich sogar kurz über seine Augen und hoffte, er würde sie öffnen, damit sie ihr Blau in sich aufnehmen konnte.
Als sie zu seinen Lippen gelangte regte er sich. Sie zuckte zurück, doch er zog lediglich die Decke höher, die jetzt drei Viertel seines Rumpfes verbarg.
Mara sah auf ihr Handy. Verpasste Anrufe von Carol und Jeanne, ungelesene Nachrichten; die Temperatur draußen lag bei zehn Grad Celsius, es war 09:03 Uhr.
Sie stieg vorsichtig aus dem großzügigen Wasserbett, um Maurice nicht zu wecken. Er sollte schlafen, das wäre gut für ihn. Dann schlich sie auf den leisen Pfoten einer Katze durch die Wohnung und sammelte ihre sieben Sachen ein.
Auf einen Zettel kritzelte sie: 'Ich bringe meinen Krempel nach Hause und fahre danach zum Südgelände. Komm vorbei, wenn du Lust hast und ruh dich aus.'
Sie hatte ihn vermisst und am liebsten hätte sie den ganzen Tag mit ihm verbracht, aber sie fühlte sich rastlos und kreativitätsgeladen. Auf dem Südgelände könnte sie ihre Sketches der letzten Wochen verwirklichen. Eine künstlerische Therapie zur Verarbeitung der Geschehnisse.
Sie legte den Schnipsel auf seinen Nachttisch und ging geräuschlos ...
Maurice schreckte vom Klang des sich im Schloss drehenden Schlüssels hoch. Er bemerkte den Papierfetzen, erkannte Maras Schrift und die Frage, wer soeben seine Wohnung betreten haben könnte drängte sich ihm auf.
"Alter, es ist 16 Uhr", tadelte Kurt seinen Freund, als er ihn noch im Bett vorfand.
"Ach, du bist es." Maurice ließ sich erleichtert zurück in die weichen Kissen sinken.
"Na los, raus aus den Federn, du musst was essen."
Er hatte Recht. Maurice angestauter Hunger machte ihn zittrig. Müßig kletterte er aus der Deckenburg, zerrte sich einen Hoodie über den Kopf und schlüpfte in seine Jeans.
Bevor sie sich auf den Weg machten, schüttete er sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Das lockte seine Lebensgeister aus der Reserve.
Ein wenig später inhalierte er abwechselnd den Dampf seiner Kaffeetasse und biss in ein belegtes Baguette. Kurt saß ihm gegenüber und hatte sein Handy gezückt.
"Mit wem schreibst du?", fragte er neugierig.
"Kommilitonin", murmelte er, ohne aufzublicken.
Maurice schluckte den letzten Happs seiner ersten Mahlzeit heute herunter und kippte den mittlerweile kalten Kaffee hinterher.
"Wie geht's dir?", fragte Kurt, der jetzt doch sein Handy wegsteckte.
"Den Umständen entsprechend. Müde, fertig, aber dank dir wenigstens nicht mehr so hungrig."
Kurt lächelte, dann wurde seine Miene wieder ernst. "Mara sah nicht gut aus, wenn ich mal da war."
Maurice nickte nachdenklich. "Sie braucht Hilfe. Meine Mutter hat sie ihr angeboten, aber sie nimmt sie nicht an."
"Welche Form von Hilfe?", hakte Kurt nach.
"Psychologische. Ich sag das nur ungern, aber sie schafft das auf Dauer nicht allein, dafür ist sie nicht stark genug." Kurt beobachtete, wie Maurice sich den Schlaf aus den Augen rieb.
"Glaubst es würde helfen, wenn ich mitkäme?"
"Zum Psychiater?"
"Schaden kann's mir nicht."
Maurice musterte seinen Kumpel. Er war ein Strich in der Landschaft, dürr und leichenblass.
"Mir ist es jeden Versuch wert", meinte er schließlich. "Ich will, dass sie wieder stabil wird. Lebensfroher."
Kurt nickte bei seinen Worten. "Probieren geht über studieren."
Maurice hörte sich an, wie seine Noten momentan litten, dass er mit dem Gedanken spielte, die WG aufzulösen oder sie zu verlassen. Dass die Gespräche mit Mara ihm gezeigt hatten, dass seine Probleme anders waren, aber ihm genauso zusetzten.
"Du musst was dagegen tun, Mann", sagte Maurice ehrlich, nachdem er seinen Vortrag beendet hatte.
"Ich weiß", erwiderte Kurt ...
Das Bild vor ihr war realistischer als die, die sie vorher gesprüht hatte. One Way Ticket, stand am unteren Rand, links von ihrem Nametag.
"Ist das Edda?"
Mara fuhr herum. "Nick, was tust du hier?", fragte sie aufgebracht.
"Du bist gerne auf dem Südgelände. Ich kenn dich nun mal, ist das ein Verbrechen?"
"Du verfolgst mich. Ja, das ist ein Verbrechen, man nennt es Stalking. Hör auf damit!"
"Wo ist dein Lover, hm?" Er kam ihr wieder näher.
"Hilfe!", schrie sie plötzlich laut. Nick schubste sie reflexartig gegen die Wand.
Ein großer, schwarzhaariger Typ, den Mara auf vierundzwanzig schätzte, bog um die Ecke.
"Hilf mir!", rief Mara ihm zu.
"Gibt's 'n Problem?", fragte der Andere.
"Nein", antwortete Nick sofort und packte Mara.
"Dann kannst du sie ja auch loslassen, oder?"
Nick rührte sich nicht.
"Na los", forderte ihr Retter.
Nick lockerte seinen Griff und Mara entriss sich seiner. Der Abdruck der Hand hob sich deutlich weiß vom Rest ihrer Haut ab. Schnell flüchtete sie außer Reichweite.
"Wenn ich dich nochmal mit ihr sehe, bin ich nicht mehr so höflich. Und jetzt zieh Leine."
"Wir sehen uns noch, Mara", drohte Nick ihr.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte abweisend auszusehen, obwohl die Angst ihr Herz zum rasanten Klopfen trieb.
Glück gehabt, dachte sie
"Danke", verabschiedete sie sich von dem Fremden. Rasch schwang sie sich ihren Rucksack auf den Rücken und huschte davon.
Sie sprang in den Bus, der in dieser Sekunde hielt. Wo er hinfuhr, wusste Mara nicht, aber das war normal für sie und egal. In Berlin fand sie immer ihren Weg.
Maurice hatte ihr geschrieben:
Maurice D.: Hi, ich bin gerade erst aufgestanden und war mit Kurt essen. Wo bist du?
Mara P.: Guten Morgen. Auf dem Weg ins Krankenhaus. Treffen wir uns dort?
Maurice D.: Ja. Kann ich Kurt mitbringen?
Mara P.: Hängt er dir am Arsch? Wozu?
Maurice D.: Bitte.
Mara P.: Oh, wenn du so lieb fragst, bist du unwiderstehlich.
Maurice D.: Ich weiß. Bis gleich.
Sie fand ihn wartend vor Zimmer 103. Er unterhielt sich mit Kurt und sie dachte daran, was er über Maurice gesagt hatte. Sie wären bis an ihr Lebensende Freunde.
Trotzdem ... Was machte Kurt hier?
Ihre Schwester lag hinter dieser Tür. Er hatte nichts mit all dem zu tun.
Mara stellte sich auf Zehenspitzen und küsste Maurice.
"Warst du schon drin?", fragte sie.
Er verneinte.
"Warte mal", stoppte er sie, als sie in den Raum wollte.
"Wir gehen zu diesem Psychologen", meinte Kurt.
"Wer? Ihr beide?"
"Nein, du und ich", widersprach er.
"Ähm ... Nein?"
Maurice nahm ihre Hände in seine. "Sieh es ein: Wie viel schlimmer kann es werden?"
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sofort ihre Wangen herunterliefen.
Er zog sie zu sich und umschloss sie mit seinen Armen.
Mara weinte, aber es fühlte sich richtig an.
Kurt berührte sie sanft an der Schulter. "Wir ziehen das zusammen durch, okay?"
"Okay", schniefte sie ...
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Blau wie wir
RomanceMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...