19. Kapitel

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"Auch fertig." Maurice blickte Stolz auf die Formen.
Mara stellte sich zu ihm. Er nutzte seine Chance und schlang seinen Arm um ihre Taille.
In ihrem Kopf schien es zu arbeiten. Sie dachte bereits darüber nach, wie sie die gesprayten Sachen der Vier miteinander verbinden konnte. Der Style wäre zu imitieren, sowohl bei Maurice als auch bei Sinan. Vielleicht sollte sie alles zusammenlaufen lassen; eine echte Connection schaffen.
Bei Niko zogen sich mittlerweile gerade Linien von der Decke bis zum Boden. Mara hatte metallische Lackstifte, mit denen sie Highlights setzen konnte, was sie auch tat, nachdem Niko fertig war.
Je länger sie die Wand betrachtete, desto klarer wurde das Bild, das vor ihren Augen entstand.
Tarik fand in der Zwischenzeit Fotos von Jeanne aus dem Kollektiv. Kurze Haare in Weinrot, ein sehr hübsches, selbstbewusstes Lächeln und ständig in Lederjacke unterwegs. Und talentiert wie sonst wer. "Hört mal!", bat er alle Umstehenden. Dann trug er seinen Part vor.
Mara realisierte, dass sie hier gerade den Schaffensprozess des neuen Albums ihrer Lieblingsband bewundern durfte. Ein wahrgewordener Traum, das alles; zwischen Maurice und ihr, dass sie jetzt hier war ...
Sanfte Lippen legten sich auf ihren Hals. Kein Traum.
"Alter, hast du überhaupt zugehört?", lachte Tarik Maurice aus.
Maurice grinste breit. "Meine Lines sind fast vollständig", rechtfertigte er sich.
Während sich die Herren in ihre Musik vertieften, sprühte Mara.
Das schaffte ihr gedanklichen Freiraum. Ihr Kopf wurde praktisch leer, es hatte etwas Meditatives.

"Das ist unglaublich", staunte Niko. Die Wand war nicht wieder zu erkennen. Alles war verknüpft, Tareks Piece bildete das Zentrum, als elaboriertestes aller vier.
Mara hatte eine Farbe kreiert, die Blut mimte, mit der alles überzogen war, was dem Bild einen morbiden Charme verlieh. "Sorry, Angewohnheit, es passt einfach", meinte sie.
"Wehe, du entschuldigst dich nochmal für deine Kunst", lachte Niko.
"Nett", deklamierte Sinan.
"Ziemlich geil", gratulierte auch Tarik.
"Und du?", provozierte Mara Maurice. "Hast du gar nichts dazu zu sagen?"
"Nö."
Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Bier und lieferte sich ein Blickduell mit ihm.
Er gewann. Es lag mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit am Alkohol, denn sonst war das nie der Fall.

"Jetzt deine Freunde", sagte Maurice, als sie wieder auf der Straße liefen.
Mara verabredete sich mit Philian. Oder Kilian, wie er wirklich hieß, weil er als einziger Zeit hatte.
"Hast du schon mein neues Piece bei dir in der Gegend gesehen?", fragte er aufgeregt.
"Maurice, das ist Kilian, Briefmarkensammler und professionelles Arschloch", stellte sie ihn vor.
"Ach, hi!", lachte Maurice.
"Kein professionelles Arschloch, beruflich Scheidungsanwalt."
"Na, ob das nicht bedeutungsgleich ist, wage ich zu bezweifeln", sagte Maurice.
"Danke, ich nämlich auch", grinste Mara. "Außerdem bist du eingebildet."
Kilian machte ein empörtes Geräusch. "Nein, ich hab's noch nicht gesehen, aber ich schau nachher vorbei. Wo ist es genau?"
"Fick dich. Und Prenzlauer Allee, S-Bahnhof."
"Wie lange besteht euer Kollektiv eigentlich schon?", fragte Maurice. Mara lehnte an seiner Brust. Sie hatten sich ins nächstgelegene Café gesetzt. Die Loungesofas waren unendlich bequem und sie versanken darin.
"In dieser Konstellation?", fragte Kilian. "Ich bin erst recht spät dazu gekommen."
"Graffity gehört Jeanne, weißt du, und Marvin aka Klient. Jeanne hat mich aufgelesen, damals war sie zwei Klassen über mir und gerade sitzengeblieben", erzählte Mara.
"Mich hat Marvin entdeckt. Das war gruselig, weil wir vorher nie miteinander gesprochen hatten und er generell mit so gut wie niemandem redet", redete Kilian dazwischen.
Er sah nicht aus wie jemand, der sich die Nächte um die Ohren haute, um sein neuestes Graffiti zu beenden.
Er trug eine markante, schwarzgerahmte Brille, einen hellblauen Pullover aus Angorawolle, darunter ein weißes Hemd, Markenjeans und polierte italienische Herrenschuhe. Seine blonden Haare präsentierten sich im modernen Kurzhaarschnitt.
Maurice fand ihn seriös. "Hätte nicht gedacht, dass du sprayst", sprach er seine Gedanken laut aus.
"Ein Hobby."
"Niemand sieht so aus, wie all das, was er macht", stellte Mara fest. "Du siehst auch nicht unbedingt wie der Rapper aus, der du bist."
"Du bist Rapper?"
"Maurice von FIA, freut mich."
"Verarsch mich nicht, Marsea. Du hast dir einen aus deiner Lieblingsband geangelt?" Kilian glotzte sie förmlich an.
"Wenn, dann hat er wohl eher mich geangelt", nuschelte Mara.
"Wer hat mich denn aufgehalten, bevor ich vorbeimarschieren konnte?", wehrte Maurice ab. Es war ihm egal, was Kilian von ihm dachte, aber er wollte, dass er nicht schlecht über Mara dachte und er hatte positiv überrascht gewirkt, als er davon hörte, dass sie jemanden flach gelegt hatte.
Sie ist die jüngste in Bunde, vielleicht ist sie dadurch ... anders akzeptiert, dachte er.
"Hast du nicht erwartet, was?", rang sich Mara ein Lächeln ab und sippte an ihrem Milchkaffee.
"Andere Frage: Was ist mit Chloe los? Ich wollte, dass sie Aufnahmen für mich macht, aber nein", klagte Kilian.
Maurice deuchte, dass Chloe wohl auch das Foto von Mara beim besprühen des Findlings gemacht hatte, das Tarik ihnen gezeigt hatte und sie musste auch die Taschenlampe gehalten haben. Klar, schließlich waren Mara und Chloe beste Freundinnen. Gewesen.
Die macht sie nie mehr, dachte Mara.
"Chloe und ich, wir sind nicht mehr so cool miteinander seit ..." Seit ich glücklich bin, dachte sie.
"Seit was?", fragte Philian, das Arschloch.
"Unwichtig, vergiss es. Keine Ahnung, ob sie noch fotografiert für uns."
"Aha. Und dein Ersatz? Jeanne wird dich nicht herzen und küssen dafür."
"Aber dich, dafür, dass du den Platz an dich gerissen hast, der schon längst für Marvin reserviert war?" Maras Augen verengten sich zu Schlitzen.
Maurice hatte sie noch nie so gesehen.
"Quatsch, der wird's schon überleben", winkte Kilian ab.
"Du bist so ein Scheißegoist", zischte sie.
"Hey, Marsea, nimm es mir nicht übel, das tut Klient ja auch nicht", versuchte er sie zu beruhigen. "Ich hab seine Sketch gesehen, ich meine, die war echt nichts Besonderes. Wenn du's siehst, wirst du's verstehen. Die Wall war perfekt für mich."
"Sie war genauso perfekt für Marvin!" Mara war aufgesprungen und schüttete Kilian den Rest ihres Kaffees über den Pulli.
"Bist du verrückt?! Ich habe gleich einen Termin!"
"Ja, bin ich", sagte sie und stürmte aus dem Laden.
Maurice reichte Kilian noch höflich eine Serviette, bevor er seiner Freundin folgte.
"Der ist klasse?", munterte er sie mit seiner ungläubigen Frage auf.
"Ein klasse Idiot", lächelte sie. "Mann, es tut mir schon wieder leid. Wir sitzen im selben Boot. Die Einzige, die sich jederzeit Stress mit einem anderen aus dem Kollektiv leisten kann ist Jeanne. Wenn wir uns streiten, riskieren wir rausgeworfen zu werden."
"Seid ihr nicht alle gleichberechtigt?"
"Doch, aber Jeanne macht den organisatorischen Kram und hat deshalb automatisch mehr Rechte", lachte Mara.
Maurice küsste sie. "Besser?", fragte er.
"Besser", entschied sie. "Komm, wir schauen uns sein Piece an und danach gehen wir zu mir."
Maurice folgte ihr willig.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt