31. Kapitel

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Tourabschluss in Berlin. Wie damals, dachte er. Noch zwei Wochen.
Maurice' Laune befand sich auf dem absoluten Nullpunkt.
Tarik und Sinan besprachen nur das Nötigste miteinander und gingen sonst jeder ihrer eigenen Wege. Mit beiden hatte er gesprochen und dabei herausgefunden, dass keiner ihn für das Drama um Jeanne verantwortlich machte. Das Gefühl blieb jedoch.
Er konnte den Telefonaten mit Mara entnehmen, wie beschissen es ihr gehen musste. Ein paar Mal - ein paar Mal mehr - hatte sie während der Gespräche mit ihm geweint. Er wusste, wie tief sie fiel und es tat unendlich weh, nicht dagegen ankämpfen zu können; sie nicht retten zu können, schlicht machtlos zu sein. Obwohl das alles war, was er wollte: Ihr Held sein. Der dämliche Ritter in goldener Rüstung. Und weil er das nicht konnte, kam er sich vor wie ein elender Versager ...
Mara selbst, war bloß noch ein abgestumpfter Schatten. Sie ging jeden Morgen zur Berufsschule oder ins Hotel, wo sie ihre Aufgaben stets gewissenhaft erledigte. Im Anschluss fuhr sie direkt zu Edda ins Krankenhaus.
Maurice' Mutter versuchte sie jeden Tag zum Psychiater zu locken, aber sie wehrte sich dagegen.
Die Sketches, die entstanden wurden düsterer, hoffnungsloser, finsterer.
Wenn sie alleine war, griff sie zur Klinge. Bei jedem Anruf von Maurice, schämte sie sich dafür, weil er fragte, was sie am Tag so getan hätte. Er sollte denken, dass sie aktiv Ablenkung fand, fand Mara, aber sie konnte ihn nicht anlügen und so gab sie lieber keine Antwort, heulte stattdessen und schämte sich noch mehr.
Carol klingelte mehrfach bei ihr, schaffte es sogar einmal bis vor ihre Wohnungstür, weil sie ewig draußen gewartet hatte, bis sie hinter einem anderen Bewohner der Nummer fünfunddreißig ins Treppenhaus schlüpfen konnte. Mara weigerte sich trotzdem zu öffnen und nach sage und schreibe vier Stunden machte sich ihre beste Freundin wütend und enttäuscht auf den Heimweg.
Danach warf Mara einige ihrer Klamotten in den größten Rucksack, den sie besaß, und zog vorübergehend in Maurice' Wohnung.
Alles hier spiegelte ihn wider. Sie sah wie eine Fata Morgana, wie sie draußen auf der Terrasse Coq au Vin aßen, in Anzug und Abendkleid ...
Mit einer dünnen Wolldecke schlief sie auf der Couch. Die füllte sie wenigstens aus, so allein. Das Bett war zu groß ohne ihn.
Plötzlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss.
Mara atmete flach. Ein Einbrecher? Sofort verwarf sie den Gedanken. Ein Einbrecher mit Schlüssel? Nein. Eher nicht. Maurice ...?
Das Licht ging an.
"Mara?"
Kurt musterte sie überrascht.
"Was machst du hier?", krächzte sie.
Er hielt einen Stapel Briefe hoch. "Ich kümmere mich um die Post und den ganzen wichtigen Kram, wenn Maurice nicht da ist. Was ist mit dir?"
"Ich bin vor Carol geflohen. Man ist in seiner eigenen Wohnung nicht mehr sicher."
Mara flocht ihre Haare aus Gewohnheit zu einem Zopf.
"Davon kann ich ein Liedchen trällern", resignierte Kurt.
Er sah nicht anders aus als sie. Mager, mit tiefen, dunkelblauen Augenringen und blasser Haut, wie Pergament.
"Ist schlimm, wenn er auf Tour ist, was?", murmelte er.
"Wenn er weg ist und niemand ihn zurückholen kann", entgegnete Mara. Sie rutschte ein wenig beiseite, sodass Kurt sich setzen konnte.
"Er gibt sich viel kleiner als er ist", philosophierte der über seinen Kumpel. "Ich bin ein schmächtiges Anhängsel neben ihm. Böse Zungen reden vom berühmten Klotz am Bein, aber das ist mir egal. Weil Maurice mir nie das Gefühl gegeben hat, dass ich eine Last bin. Er scheint mich im Gegenteil als Bereicherung seines Lebens zu verbuchen ... Manchmal stelle ich mir vor, wie wir in sechzig Jahren oder so auf einer Parkbank sitzen und über unsere Enkel lästern. Wenn ich dann sterbe, sind wir bestimmt noch immer Freunde."
"Und die Mutter deiner Kinder, wer ist sie?", fragte Mara. Sie wollte von Maurice als Thema abweichen. Es war furchtbar genug, dass er nicht hier war. Da brauchten sie ihn oder eigentlich seine Abwesenheit nicht auch noch rhetorisch zu duplizieren.
"Keine Ahnung ... Carol ist es nicht ... Ich kenne nur die Mutter seiner Kinder. Das bist du."
Kurt hatte Maurice über keine Frau je so reden hören wie über Mara. Überhaupt hatte er noch nie jemanden so über eine Frau reden gehört. Maurice hatte ganz andere Worte für sie. Worte, die so zutreffend waren, dass Kurt Mara, nur von seinen Erzählungen her, zu kennen glaubte.
Sie verbrachten den ganzen Abend zusammen. Mara wurde nach und nach klar, dass es ihr sehr wohl etwas ausmachte, dass sie so einsam war; sich so abkapselte und isolierte, niemanden an sich heran ließ. Außer Kurt, der ihr aber keine Umstände bereitete, sie nicht auf den Ottomanen beim Psycho-Doktor zwingen wollte, sie nicht vorwurfsvoll ansah, weil sie ihre Pizza verschmähte.
Sie verstand Carol beim besten Willen nicht. Kurt war traumhaft. Und das allerbeste an ihm war, dass ihn niemand so würde wegschnappen wollen, wie sie es von Maurice kannte. Den wollten alle.
Die zweite beste Freundin, bei der Mara in Liebesdingen überfordert war.
Ob Chloe und Magnus geheiratet hatten? Bestimmt nicht, bestimmt hatte er Chloe vor dem Altar sitzen gelassen. Und sie hatte nur geweint und nichts weiter getan. Ihm keine schallende Ohrfeige verpasst mit den Worten: Das ist es, was du bekommst, dafür, dass du an unserem Scheiß-Hochzeitstag Schluss machst.
Carol laberte nur von Philian, dem Arschloch. Mara würde ihr von dem miesen Hinterhalt berichten, den er bei Marvin abgezogen hatte. Vielleicht käme sie dann endlich zur Vernunft.
Aber was war schon Vernunft? Und was wollte Mara, eine Brandstifterin, anderen über Vernunft erzählen?
"Maurice, kommst du mit? Ich wollte noch eine rauchen." Niko wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern schob Maurice direkt von den restlichen, nach Unterschriften und Fotos gierenden Fans fort.
Niko steckte seine Kippe an und die Dunkelheit um sie herum, wurde durch das Glimmen nur kontrastloser.
Maurice lehnte sich gegen die Betonwand der Halle in der sie gespielt hatten. Die fühlte sich kalt an, aber gut. Machte ihn lebendiger.
"Du hast es doch bald hinter dir", sagte Niko.
"Es geht ihr so scheiße", murmelte Maurice.
"Sei mir nicht böse, Alter, aber dein Leben kann sich nicht nur um dieses Mädchen drehen. Wir mögen sie alle, aber wenn sie echt so instabil ist, wie du sagst ... Maurice, du weißt, ich bin nicht dein Feind, aber scheiße, verdammt, wenn es so ist, dann haben wir alle ein Problem."

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt