Mitten im zweiten Teil der Tour kam der Anruf.
"Ey, Maurice", winkte Felix ihn heran. "Deine Freundin hat mehrfach vollkommen aufgelöst hier angerufen. Ich glaube, es ist etwas mir ihrer Schwester."
"Danke, Mann", murmelte Maurice und wählte Maras Nummer. Er hatte jetzt schon Angst davor, was sie sagen würde, wenn sie gleich abnahm. Aber es war zu spät, um wieder aufzulegen.
"Hallo?", schluchzte sie in den Hörer.
"Ich bin's", ertönte es sanft aus dem Lautsprecher.
"Sie ist -" Mara biss sich auf die Hand, sonst hätte sie wieder angefangen zu weinen.
"Soll ich nach Berlin kommen?", fragte er, absolut ernst.
Mara schüttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass Maurice sie nicht sehen konnte und sagte: "Nein. Du kannst da nicht einfach abhauen."
Erleichtert atmete er auf. Er wäre gerne für sie da, logisch, bloß machte ihm sein Job was das anging nun mal einen Strich durch die Rechnung.
"Hatte sie Schmerzen?", fragte er. Eddas Tod nahm auch ihn mit. Die Kleine war ihm ans Herz gewachsen, sie hatte ihm schließlich auch das ein oder andere Mal geholfen.
Mara verneinte. "Sie war am Ende ganz schwach, konnte nicht mehr reden."
"Es tut mir leid."
"Ich wünschte, du wärst hier." Die Worte verließen ihre Lippen, bevor sie sie aufhalten konnte. Sie widersprach sich selbst. "Bleib wo du bist", schob sie rasch hinterher.
"Das ist doch nicht das, was du möchtest, Mara", hielt er dagegen.
Maurice machte sich unendlich Sorgen. Seitdem sie sich fast umgebracht hatte, quälte ihn die Beklommenheit.
"Maurice, das geht nicht", wehrte sie ab.
Angestachelt davon, ging er das Szenario im Kopf durch.
"Doch, es geht", behauptete er. "Wir sind gerade in Hamburg. Bis nach Berlin sind es zwei Stunden mit dem Zug. Morgen ist das Konzert in Rostock, da kommt man auch schnell und unproblematisch hin, sogar mit der Deutschen Bahn."
Mara lauschte seiner Idee aufmerksam.
"Es wäre nur für eine Nacht, aber dann musst du das wenigstens nicht ganz alleine durchstehen", endete er und kickte einen Stein aus dem Weg, während er auf ihre Antwort wartete. Er konnte sie unschlüssig ins Telefon atmen hören.
"Du musst das nicht -"
"Ich will aber", unterbrach er sie. "Wenn ich mich beeile, bin ich in drei Stunden bei dir, okay?"
"Okay", schniefte Mara leise.
"Bis gleich", verabschiedete er sich.
"Bis gleich."
"Er kommt her?", fragte ihre Mutter.
Auch sie war am Boden zerstört. Sie hatte gerade ihr Kind verloren. Trotzdem wollte sie stark sein. Für Mara und besonders für Leon, der bebend an ihrer Schulter lag.
Mara nickte stumm.
"Wir müssen sie wirklich wegbringen, es tut mir leid", sagte eine zierliche Krankenschwester.
Evelyn nickte bestätigend.
Sie schoben Edda, die tote Edda, aus dem Zimmer.
Als sie höflich hinausgebeten wurden, setzte die Taubheit bei Mara ein.
Sie fühlte nichts. Die Welt war grau, der Wind war kalt; es gab keine Wunder mehr ...
Maurice' Taxi steckte im Stau. Zwei Querstraßen von Maras Wohnung entfernt, knallte er dem Fahrer wutschnaubend ein paar Scheine hin und stieg mitten im tobenden Verkehr aus.
Er sprintete den restlichen Weg, fand sie oben in vier Decken gehüllt auf der Couch, den Blick ins Leere gerichtet.
"Sorry, dass das so lange gedauert hat." Er umarmte sie sofort und spürte, wie sich ihre Anspannung löste und sie den Tränen freien Lauf ließ ...
Sie war eingeschlafen. Endgültig, wie es schien.
Davor hatte sie ihm anvertraut, dass sie im Moment nichts lieber als tot wäre.
Obwohl die Aussage ihn schockiert hatte, wusste er zu schätzen, wie ehrlich sie war.
Seine Freunde hatten ihm schnell zugestimmt, als er erzählte, er müsse wegen Mara nach Berlin und Maurice raste los, um den nächsten ICE zu erwischen.
Die ganze Fahrt über hatte er teilnahmslos aus dem Fenster gestarrt, wo es nichts zu sehen gab, weil die Dunkelheit alles verschlang.
Was er nicht alles schon für sie getan hatte. Wollte er das? Wollte er ständig Dinge für sie tun müssen?
Diese Beziehung war so jung, aber sie verlangte ihm doch schon mehr ab, als all seine bisherigen zusammengenommen.
Nach dem Regen scheint die Sonne, dachte er ...
Mara träumte von Edda. Von ihren Feentänzen am Ufer der Havel.
Ihre Kindheit war so glücklich gewesen, sie war dankbar dafür. Sie war dankbar für die Zeit, die sie mit Edda verbringen durfte und der Gedanke, dass es ihr nun besser ging, hatte etwas Tröstendes.
Im Wachkoma schmiegte sie sich an Maurice. Sie war auch unaussprechlich dankbar dafür, dass er hier war.
"Du solltest dich nicht so aufopfern müssen für mich", flüsterte sie.
Er küsste sie auf den Haaransatz. "Ich kenne niemanden, der es mir mehr wert wäre."
Dass er bloß nie von diesem Glauben abfällt, dachte sie.
"Versprichst du mir etwas?", fragte sie.
"Alles."
"Wenn du mich nicht mehr liebst, trenn dich von mir."
"Mara -"
"Hush." Sie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. "Hör mir zu. Fühl dich nicht gezwungen, mit mir zusammen zu bleiben, weil ich labil bin und der restliche Scheiß."
"Dann versprich mir auch was", bat er sie. "Versprich mir, dass du dich nicht umbringst, wenn ich mich von dir trenne."
"Ganz bestimmt nicht."
"Versprochen?" Er hielt ihr seinen kleinen Finger hin.
Lächelnd rankte Mara ihren darum. "Versprochen", antwortete sie mit fester Stimme.
"Okay." Er verpasste ihr einen Kuss auf die Wange und zog die Decke über sie.
"Du bist total kalt", sagte er leise und ließ seine Fingerspitzen über ihre von Gänsehaut überzogenen Beine wandern.
"Und du bist total warm", erwiderte sie und berührte seine pulsierende Halsschlagader.
"Wir werden beide krank", lachte er.
"Werden?", grinste Mara.
Sie machten die Nacht durch, wenn auch ohne miteinander zu schlafen. Das wäre unangemessen.
So lagen sie beieinander, unterhielten sich leise, bis die ersten Vögel zwitscherten.
"Wann musst du los?", fragte sie wie nebenbei.
Maurice hatte ein Zugticket um zehn Uhr nach Rostock gebucht.
"Frühstück im Bahnhof?", schlug sie vor.
"Du weißt doch, die Leute", beschwerte er sich.
"Jeanne arbeitet da halbtags in einem der Cafés. Sie hat ein ruhiges Plätzchen, auf das sie uns setzen kann. Und wenn's sein muss hält sie die anderen Kunden fern", bearbeitete sie ihn, machte dabei einen Schmollmund und küsste ihn bittend auf die Brust. Der niedliche Ausdruck in ihrem Gesicht ließ ihn weich werden ...
DU LIEST GERADE
Blau wie wir
RomanceMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...