9. Kapitel

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Es vergingen Tage und sie suchten die Nähe zueinander, unablässig. Er holte sie von der Schule ab, sie trafen sich in Cafés und Parks. Maurice konnte sich sogar mehrmals überwinden, bei ihr, in der Wohnung ihrer Familie zu übernachten, auch wenn es ihm häufig unangenehm war, weil es ihn daran erinnerte, dass sie erst achtzehn war.
Mara lebte mit der ständigen Angst, ihn jede Sekunde verlieren zu können. Rief er sie an, war seine Nummer anonym, sodass sie nicht zurückrufen konnte. Er lud Mara nicht in seine Wohnung ein. Sie waren entweder in Kurts WG oder bei ihr.
Sie wollte Maurice von ihrem Vater erzählen, verwarf den Entschluss meist aber schnell, weil sich unaufhaltsam Tränen in ihren Augen sammelten. Wenigstens mit fester Stimme wollte sie von ihm berichten können.
Nachdem ihr Bett eine Woche später aufgebaut worden war, die Einweihungsparty ihrer Wohnung war im vollen Gange, suchte Maurice, wie zuletzt immer, Maras Gesellschaft.
Er hatte ihr eine blaue Orchidee mitgebracht, weil er jetzt ihre Lieblingsfarbe kannte und sie ihm gesagt hatte, ihr fehlten Blumen auf der Küchenfensterbank.
"Hallo", begrüßte sie ihn, konnte den überraschten Unterton aber nicht aus ihrer Stimme halten. Es war noch immer seltsam, dass er plötzlich nicht mehr unerreichbar für sie sein sollte.
"Für dich oder eher für deine Fensterbank", streckte er ihr die Pflanze entgegen.
"Oh, dankeschön, die ist ja hübsch, ich hab noch nie eine blaue Orchidee gesehen."
"Ich auch nicht, ich hatte nach einer blauen, pflegeleichten Blume gefragt", sagte er.
"Das Wörtchen pflegeleicht zu erwähnen, war sehr umsichtig von dir", lachte sie. "Komm rein."
"Maurice! Schön, dich zu sehen!" Maras Mutter hatte vergeblich versucht, ihre Tochter über ihn auszuquetschen. Ob sie ein Paar wären oder nicht, ob er es auch ernst mit ihr meinte ...
Mara hatte abgeblockt. Was hätte sie denn schon antworten sollen? Sie wusste es ja selbst nicht.
Carol, die sich auf das Sofa gefläzt hatte, winkte Maurice.
"Also ich gehe dann jetzt", verabschiedete sich Chloe von Mara. Es war unangenehmer zwischen ihnen geworden. Seitdem Mara so viel Zeit mit Maurice verbrachte und in Anbetracht der Tatsache, dass dieser so ganz anders war als Magnus, distanzierte sich ihre beste Freundin von ihr. Es tat Mara in der Seele weh, aber am Ende des Tages musste Chloe ihre Entscheidungen allein treffen. Außerdem verstand sie sich blendend mit Carol und Chloe musste ahnen, dass sie schon jetzt keine allzu große Rolle mehr in Maras Leben einnahm. Vielleicht würden sie die Freundschaft irgendwann offiziell auf Eis legen.
"Ich würde gerne sehen, wo ich heute Nacht drin schlafe", raunte Maurice Mara ins Ohr und sie zupfte an seinem Ärmel und zog ihn ins Schlafzimmer.
Das neue Bett war groß und hatte einen Metallrahmen, der subtil mit Schnörkeln verziert war.
Maurice zauderte nicht lange, sondern schmiss sich auf die Burg aus Decken und Kissen.
"Und? Gemütlich?", fragte Mara.
"Äußerst bequem", bestätigte er, griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich. Sie küssten sich und seine Finger spielten mit dem Reißverschluss ihres Kleids.
"Nicht jetzt. Ich muss erst die ganzen Leute rausschaffen", entschuldigte sie sich, machte aber keine Anstalten, sich von ihm runterzubewegen.
"Auf mir zu liegen ist kontraproduktiv, Mara", deutete er an.
"Für wen?", seufzte sie. "Ich kann Menschen nicht so gut rausekeln, aber Carol vielleicht; ich glaube, ich frage sie, ob sie mir hilft. Sie sagt, Kurt ist schlecht auf sie zu sprechen, kannst du ihn bitten, wieder ein bisschen netter zu ihr zu sein?"
Maurice legte die Stirn in Falten. "Nein. Ich bin kein Paartherapeut. Ich bin generell kein Therapeut und Kurt und ich sind Freunde, aber so viel haben wir dann doch wieder nicht miteinander zu tun."
Er bringt halt nur nach Konzerten Mädchen mit in die WG, dachte Mara. Dieses Gefühl, nichts Besonderes zu sein stach in ihrer Brust.
"Hey, du, schau ein bisschen fröhlicher, du wohnst jetzt hier, das ist dein Reich", sagte er und wickelte eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger. Er wusste, dass das okay war, solange er nicht daran zog.
"Noch fünf Minuten", murmelte sie und legte ihr Ohr an sein Herz, wo sie die Augen schloss und einfach nur lauschte. Stille hüllte sie ein.
Gerade als er dachte, sie wäre eingeschlafen regte Mara sich. Zum Glück rechtzeitig, bevor Leon ins Zimmer stürmte.
"Jasi, komm schnell, Nick ist da! Maurice, er soll gehen!"
"Was?", fragte Mara geschockt.
"Wer ist das?", fragte Maxim.
"Mein Ex. Leon, macht er irgendwas kaputt oder wollte er nur hallo sagen?"
"Ist mir egal", drängelte Leon. "Ich mag ihn nicht, Maurice soll ihn rausschmeißen, weil: Er ist viel stärker."
Mara stand auf und lief zurück in den Flur. Unschlüssig blieb Maurice zurück.
"Was machst du denn? Nick war am Ende immer gemein zu Jasi, er soll weg gehen", schluchzte Leon.
"Du brauchst nicht weinen, Großer, er wird schon wieder abhauen", tröstete er ihn und wuschelte dem Kleinen durch die braunen Haare. "Was hat er gemacht?", fragte er vorsichtig.
Wenn ich ihr nicht an den Haaren ziehen sollte, weil das Nicks Vorstufe von Misshandlung war ..., dachte er.
"Er hat Jasis Sachen kaputt gemacht und sie angeschrien, ganz laut", schniefte Leon.
Mara stand Nick gegenüber und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Sie hatte sich von ihm getrennt, weil er Choleriker war und seine Grenzen nicht kannte.
"Hübsch, die Bude. Passt zu dir", sagte er grinsend.
"Danke", erwiderte Mara kühl. "Geh jetzt bitte, du warst nicht eingeladen."
Maras Körpersprache zu interpretieren, war schon mal nicht schwer, fand Maurice. Sie hatte die Arme verschränkt und hielt Abstand.
Nick musterte Maurice abschätzig, bis er realisierte, das Letzterer nicht nur größer, sondern auch wesentlich muskulöser war.
"Schon gut, kein Stress", verteidigte er sich.
Leon trat hinter Maurice hervor als die Tür ins Schloss viel.
"Jasi, er soll nicht hier sein, Nick ist doof", sagte er.
"Find ich auch", meinte Mara lächelnd und umarmte ihren Bruder. "Maurice hat ihm ganz schön Angst eingejagt", sagte sie zu ihm, wobei sie Maurice dankbar anlächelte.
Leon nickte eifrig: "Ja, Maurice ist bestimmt stark wie ein Löwe, du hättest ihn auch rauswerfen können, oder?"
"Ja, aber er war ja auch viel schwächer und mit Schwächeren kämpft man nicht", antwortete Maurice.
"Du musst jetzt auch so langsam ins Bett, kleiner Mann", las ihn Evelyn, Maras Mutter auf.
"Ich bin aber noch gar nicht müde!", gähnte Leon empört.
"Du kannst Mara morgen anrufen, Schatz, aber es ist wirklich Schlafenszeit."
"Menno", schmollte er.
"Träum was Schönes, Hase." Mara küsste ihren Bruder auf die Stirn.
"Du auch, Jasi. Gute Nacht, Maurice." Leon schüttelte Maurice noch die Hand, bevor ihn Evelyn ins Treppenhaus schob. "Edda, kommst du?", rief sie ungeduldig.
Edda nickte Maurice errötend zu und umarmte ihre Schwester, dann folgte sie ihrer Mutter.
Es war Maurice' erste Begegnung mit Nick, aber es sollte nicht seine letzte sein.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt