46. Kapitel

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"Ich kann Ihre Besorgnis ja verstehen, Frau Plinta, glauben Sie mir, aber wir wissen eben nicht, ob Nick Zepernikon eine Waffe bei sich trägt. Das Risiko einer Befreiungsaktion wäre momentan schlicht zu groß."
Mara bewunderte die Frau hinter dem Schalter für ihre endlose Geduld. Gerade hatte sie Evelyn zum vierten Mal erklärt, weshalb es zu gefährlich war, das SEK sofort eingreifen zu lassen: Leon könnte sterben.
Mara fragte sich, ob ihr kleiner Bruder wohl lieber sterben würde, als den brutalen Alptraum, der sich als seine derzeitige reale Situation tarnte, weiter zu durchleben.
"Mama, ich komme nachher wieder." Fest entschlossen packte sie ihren Rucksack und verließ die Polizeiwache.
Carol und Leo hatte sie vor geraumer Zeit nach Hause geschickt. In den Armen ihrer Mutter hatte sie auf den unbequemen Wartebänken die Nacht verbracht. Auf gute Nachrichten gehofft. Nichts.
Sie zerrte die Ärmel des alten, ausgefransten Pullovers über ihre Fäuste, schloss den Reißverschluss der Daunenweste. Der kalte Wind Pfiff in ihren Ohren.
Sie sah wie eine gesetztere Frau ihr Auto verließ. Ein Päckchen in der Hand, auf dem Weg zum Briefkasten. Der Schlüssel des Wagens steckte.
Kurzschluss.
Mara sprintete über die befahrene Straße, Bremsen quietschten, lautes Hupen überall.
"Hey!", schrie die Frau, deren Auto Mara klaute hysterisch.
Sie war taub für den empörten Ausruf, startete den Motor, parkte geschickt aus und reihte sich in den dichten Verkehr ein.
Nächste Abzweigung, raus auf die Autobahn.
Konzentriert preschte sie mit den 200 km/h, die der protzige Sportwagen zu bieten hatte an den schildkrötenartig Unterlegenen vorbei.
Abfahrt Potsdam, raus auf die schmale Landstraße. Tempo drosseln, trotzdem geblitzt werden.
Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis sie wieder anhielt, auf die renovierte Villa im Jugendstil blickte, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte.
Sie streunte durch den Garten, zog in Betracht, im Brackwasser der Havel zu ertrinken, zerstörte mit einem kräftigen Tritt das seit Jahren angeknackste Brett im Steg.
Das Haus lag leer, dunkel und verlassen vor ihr. Sie hockte im gemähten Gras, spielte mit den vergessenen Plastikactionfiguren, ohne das Gemäuer aus den Augen zu lassen.
Mit gezückter Kreditkarte lief sie auf das Eicheneingangsportal zu.
Die Tür bloß zugezogen, nicht abgeschlossen. Menschen konnten so naiv sein.
Eine ruhige, geübte Bewegung: Die Karte, die sich hinter den Riegel schob, das vertraute Klicken, gefolgt vom lautlosen Aufschwingen der massiven Flügeltür.
Mehr Spielsachen auf dem Boden im Eingangsbereich. Legosteine, Plüschdinosaurier, Murmeln.
Umgebaute Küche. Alles weiß und steril. Reste von Nudeln mit Tomatensoße auf dem Herd.
Die sperrigen, wunderschönen Schränke ihrer Großmutter im Wohnzimmer ersetzt durch moderne Ikea-Wohnwände. Der kleine Kastenfernseher, der Mara nie interessiert hatte ausgetauscht gegen eine große, chinesische Blumenvase.
Das Schlafzimmer ihrer Eltern im oberen Stockwerk strahlte wie eh und je in Zitronengelb, doch das Bett war ein anderes. Riesig, mit Platz für mindestens drei Menschen. Maras Eltern hatten immer einen Meter vierzig in der Breite bevorzugt und auch ihr eigenes Bett war nie größer gewesen.
Das Zimmer, das ursprünglich für Leon bestimmt gewesen war, war ein unnötiges Ankleidezimmer geworden und das Zimmer, das Mara sich früher mit Edda geteilt hatte, war nun auf ein einziges Kind ausgelegt, einen Jungen, wie es schien. Blaue Wände, ein Bett in Form eines roten Autos; all diese Dinge, die sich Kinder der Mittelschicht wünschten, die sie aber nie bekamen, weil sie lächerlich teuer waren.
Sie rührte nichts an. Sah in jeden Raum, verspürte den Drang die Möbel darin zu zerstören und ließ dann am Ende doch alles, wie es war: Langweiliger, polierter, anders.
Fast eine Stunde verbrachte sie auf der Treppe mit der sinnlosen Rekonstruktion der Villa, wie sie sie gekannt hatte, in ihrer Vorstellung.
"Was ist denn hier passiert?", hörte sie draußen eine Frauenstimme fragen, dann saß Mara einem geschniegelten Mann um die 35 gegenüber.
"Was machen Sie in unserem Haus?", fragte er. "Haben Sie etwas gestohlen?", schob er eindringlich hinterher.
"Mein Gott, Tom, ruf die Polizei", befahl die Frau, zu der die näselnde Stimme gehörte, die Mara hatte aufschrecken lassen.
"Wer sind Sie? Warum sind Sie in unser Haus eingebrochen?", machte der versnobte Kerl ihr Vorwürfe. "Ich werde Anzeige erstatten!", drohte er.
"Ich -", stotterte Mara, doch sie brachte kein Wort heraus. Wie gelähmt blieb sie auf der Treppe. Angewurzelt. Ja, warum war sie eigentlich hier?
Dem plötzlichen Fluchtimpuls folgend, sprang sie auf und rannte los. Der Mann fing sie ab, bevor sie ins Freie stürmen konnte.
"Stehengeblieben", knurrte er angestrengt.
Ohne nachzudenken, rammte Mara ihm ihr Knie in den Schritt. Tom, oder wie er heißen mochte, ging stöhnend zu Boden.
Die Frau kreischte spitz. Sie trug das Kind, wirklich einen Jungen, auf dem Arm. Nur deshalb konnte sie Mara nicht stoppen.
Der Motor zündete gehorsam und sie brauste davon. Weg von ihrem Elternhaus, weg von Tom, seiner Frau und seinem Kind, weg von den schönen und gleichzeitig schmerzlichen Erinnerungen an ihren Vater und Edda; weg von Potsdam, zurück auf die Autobahn, zurück nach Berlin, zurück zur Polizei, die noch immer keine guten Nachrichten für sie bereithielt. Stattdessen plapperten die Mitarbeiter bei einem Tässchen Kaffee und selbstgebackenem Bienenstich angeregt über einen Autodiebstahl, der sich angeblich am heutigen Vormittag ereignet hatte, bei dem eine junge Frau mit einem nagelneuen Sportwagen abgehauen war.
Maurice holte seine Freundin mitten in der Nacht vom Revier ab. Die Tour vorbei, das Rätsel Mara ungelöst.
Yet you don't regret a single day, dachte er; die Beatles sangen in seinen Gedanken.
Er bestellte Evelyn ein Taxi und bezahlte den Fahrer im Voraus, dann rief er eines, das Mara und ihn zu sich befördern würde.
Keiner von beiden ahnte, dass Carlo am Steuer saß. Der Bruder von Maras Arbeitskollegin Frida.
Keiner von beiden ahnte, dass Carlo Maurice' Adresse noch in dieser Nacht im Netz veröffentlichen sollte.
Keiner von beiden ahnte, dass sich am Morgen dann etliche Fans in Kreuzberg einfinden würden, die unbedingt Maurice FIA besuchen wollten. Natürlich ganz freundschaftlich, als wäre er ein guter, alter Bekannter. Oder gar ein verloren gegangener Verwandter.
Keiner von beiden ahnte, dass der „Spaß" für sie in dieser Nacht erst richtig losgehen würde.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt