49. Kapitel

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"Bitte, ich bin in Behandlung, die Krankenkasse unterstützt das und mir geht es bereits viel besser. Meine kleine Schwester ist gestorben und das - In Verbindung mit der Entführung meines kleinen Bruders. - hat ein Verhalten bei mir hervorgerufen, von dem ich weiß, das es nicht in Ordnung war. Was ich getan habe, tut mir unendlich leid. Bitte, lassen Sie mich meine Ausbildung beenden."
"Hören Sie, Frau Plinta, das mit Ihrer Schwester tut mir außerordentlich leid und was Ihrem Bruder zugestoßen ist natürlich auch. Doch die Fakten sind nunmal, dass Sie in der Zeit, in der Sie bei uns als krank gemeldet waren, ein Auto gestohlen haben und in ein Haus eingebrochen sind. Damit sind Sie vorbestraft und Mitarbeiter mit Vorstrafen darf ich in meinem Betrieb nicht dulden. Es tut mir wirklich leid, aber ich muss Ihnen dennoch den Ausbildungsplatz mit sofortiger Wirkung entziehen. Ich bitte Sie jetzt, das Hotel zu verlassen. Das ist mein letztes Wort."
Mara biss sich fest in die Wange. Es blutete, sie konnte es schmecken, aber das kümmerte sie nicht. Sie durfte nicht weinen. Sie musste aufstehen und gehen und dabei durfte sie nicht weinen, das war die Hauptsache.
Sie mied ihr zu Hause, schrieb Jeanne:


Mara P.: Erinnerst du dich noch an die vorstehende ungenutzte Terrasse auf der Linie der U1 Richtung Uhlandstr.? Ich werde dort sprayen.
Jeanne: Jetzt? Was soll denn hin? Müsstest du nicht arbeiten?! Aber nur zu. Der Platz ist schon ewig für dich blockiert.


Mara hatte keine Lust Jeannes Fragen zu beantworten. Sie hechtete aus der Bahn und kletterte in einem unbeobachteten Moment die Regenrinne des Gebäudes hoch. Klettern konnte sie. Es war damals wie heute eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Die Polizei konnte sie wegen Beschädigung öffentlichen Eigentums, trotzdem nicht gebrauchen. Obwohl eine Verhaftung das ganze Chaos abrunden würde ...
Die Menschen waren stilisierte Hotelangestellte. Sie standen mit schweren Eisenketten um Hals und Handgelenke auf der abgesperrten Straße; kalligraphisch dargestellt, vor dem Hintergrund des brennenden Waldorf Astorias.
Mara brauchte keine Sketch, da sie das Bild klar vor ihrem inneren Auge sah. Sie hörte Musik von FIA und schämte sich kein bisschen dafür.
Die Vervollständigung bildete ihr Tag. Sie postete ein Foto auf Instagram, dann beschloss sie Carol von der Uni abzuholen ...
"Was tust du denn hier? Wieso bist du nicht arbeiten?"
"Ich wurde gefeuert."
"... Was?!" Carol starrte sie entsetzt an.
"Ich bin vorbestraft. Sie wollen niemanden mit Vorstrafen ausbilden. Also bin ich raus."
"Das tut mir leid, Mara", sagte sie aufrichtig.
"Können wir ins Café? Ich brauche dringend heiße Schokolade."
"Ja, klar."
Das Café war nicht weit von der Uni entfernt. Manchmal trafen sie sich dort und redeten über dieses und jenes.
"Bist du okay?", fragte Carol vorsichtig.
"Ja."
"Gut, dann wüsste ich nämlich ganz gerne: Was sind das für Arschlöcher auf der Führungsetage?! Die haben keine Ahnung, was du durchgemacht hast! Keine!"
Mara musste unwillkürlich schmunzeln. Dafür liebte sie Carol. Für diese (berechtigten) Ausraster. Heute sah sie gar nicht mal so ungefährlich aus in ihren schwarzen Springerstiefeln mit dem Rosenmuster, der Spitzenstrumpfhose und dem kleinen Schwarzen darüber. Eine massige Goldkette lag um ihren zierlichen Hals.
"Weiß Maurice es schon?"
"Nein. Als ich morgens aufgewacht bin, war er schon weg, aber da wusste ich auch noch nichts. Und bis eben war ich sprayen gegen den Frust", antwortete Mara.
"Espresso. Doppelt", bestellte Carol für sich. "Und ein Stück von dem Kuchen mit Alkohol aus ihrer Vitrine." Die Kellnerin sah sie schief an. Carol zog fragend die Augenbrauen hoch.
"Italienische Schokolade", entschied sich Mara. Da war Amaretto drin, vielleicht würde sie das aufheitern. Das irritierte Nicken der Kellnerin störte sie nicht.
"Und ich nehm auch so ein Stück Torte", schloss sie sich Carol an.
Die Kellnerin verschwand und Mara lehnte sich zurück. "Er hat irgendwas vor."
"Wer?"
"Maurice."
"Verhält er sich komisch?"
"Komisch ist gar kein Ausdruck. Er hat mir gestern verschiedenen Schmuck angelegt und sich genau angeschaut, wie – Zitat: „was an mir wirkt." Fast eine Stunde lang! Ich wusste überhaupt nicht, dass ich so viel Schmuck besitze, aber er hat die Schatulle einmal komplett ausgeräumt."
Carol hatte einen ziemlich eindeutigen Verdacht, warum Maurice das getan hatte. Sie wollte allerdings erst mit ihm selbst darüber sprechen, bevor sie Mara eine Falschmeldung durchgab.
"Seltsam", sagte sie stattdessen und schüttete das halbe Zuckerfläschchen in ihren doppelten Espresso.
Mara sah angewidert zu. "Du stirbst eines Tages an einem Zuckerschock. Oder an Diabetes."
"Dann weiß ich wenigstens, dass ich ein kulinarisch erfülltes Leben hatte", zuckte sie die Schultern ...
Maurice saß auf der kleinen Treppe, die zur Panke hinabführte und drehte den Ring, den er gekauft hatte in seinen Händen. Das kleine Schmuckstück war der Inbegriff schlichter Eleganz. Silber, filigran, der funkelnde Diamant in der Mitte.
Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob es das richtige gewesen war oder rausgeschmissenes Geld.
Lieber abwarten, bevor er ein Nein kassierte. Lieber ein Nein kassieren, bevor er keine Gewissheit erlangte.
Noch drei Stunden, dann wäre sie mit der Arbeit fertig und er könnte sie abholen. So viel Zeit, die es totzuschlagen galt.
Er holte das Buch hervor, dass er sich heute Morgen aus ihrem Regal geklaut hatte, Die unendliche Geschichte.
Als er am Hotel ankam sah er nur diese komische Frida, die ihn nach einem Autogramm und einem Foto fragte. Er verweigerte erst, doch sie wollte die Info nur gegen ihre Forderungen rausgeben.
"Sie wurde gefeuert", sagte sie trocken, während sie ihr Handy einsteckte.
"Was?", fragte er und war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
"Sie arbeitet nicht mehr hier, Mann."
"Wo ist sie?"
"Woher soll ich das wissen?"
Genervt joggte er auf die Straße.
Und lief direkt in Mara rein.
"Vorsicht." Sie stützte ihn, damit er nicht umfiel.
"Tut mir leid", entschuldigte sie sich. "Ich war gerade noch sprayen, um das in den Kopf zu kriegen", erklärte sie.
"Frida oder wie die heißt, hat's mir gerade gesagt."
"Du hattest Angst, dass ich mich wieder von 'ner Brücke oder so stürze, nicht wahr?"
"Wenn ich nein sagen würde, wär's gelogen." Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, strich mit dem Daumen über ihre Wange und sagte: "Ich bin froh, dass du's nicht getan hast."

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt