44. Kapitel

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Nick rief immer unterschiedlich an, mal klingelte er früh morgens durch, mal mittags, mal mitten in der Nacht. Mara stand trotzdem auf Abruf bereit. Sie war seit 48 Stunden wach, begierig darauf herauszufinden, wo ihr Ex Leon versteckt hielt. Sie hatte einen Notizblock und einen Stift neben sich liegen, notierte auffällige Geräusche im Hintergrund, jedes noch so kleine Detail, dass ihr bei der Suche nach ihrem kleinen Bruder helfen könnte.
Ein Nachmittag war anders. Die unbekannte Nummer im Display gehörte diesmal nicht Nick.
Tarik bat sie todernst: "Maurice braucht deine Hilfe. Wie schnell kannst du in Hannover sein?"
"Was ist denn los?", fragte sie.
Er hörte ihrer Stimme an, das etwas nicht in Ordnung war, aber sein Freund war ihm eindeutig wichtiger als die Achtzehnjährige, mit der er in den letzten sieben Monaten kaum ein Wort gewechselt hatte.
"Er hat drei Stühle kurz und klein gehackt und ist dann abgehauen. Wir wissen nicht, wo er ist", stand Tarik ihr Rede und Antwort.
"Ich beeil mich. Wenn ich weiß, wann ich ankomme, sag ich dir nochmal Bescheid", sagte sie.
Damit hatte Tarik nicht gerechnet. Er dachte, sie würde absagen. Seit Tagen ging sie nicht ans Handy, wenn Maurice anrief. Das hatte garantiert unter anderem zu dessen Frustration geführt. Sie trug eine Mitschuld.
Es war nicht an Tarik sich einzumischen. Er wusste lediglich, dass Maurice Mara liebte und Mara Maurice.
Für Tarik war Mara eine jugendliche Träumerin, doch sie sah Dinge in Maurice, die ihm verborgen blieben und die ihm immer verborgen bleiben würden, obwohl er ihn schon ewig kannte. Er konnte Mara nicht aus Maurice' Perspektive erfassen. Vermutlich machte sie einiges mehr aus, als das, was er bisher in ihr gesehen hatte.
"Haben ihn Leute angesprochen?", fragte Mara, noch während sie den Zug verließ.
"Ja, ein paar", erwiderte Tarik verwirrt.
Mara wählte Maurice' Nummer. "Weggedrückt", murmelte sie.
"So wie du ihn."
"Ich hab ihn nicht weggedrückt", zickte sie. "Ich musste mein Handy in Reparatur geben", schob sie kleinlaut hinterher. Die Wahrheit konnte sie ihm wohl kaum anvertrauen ...
"Er ist nicht weit weg", sagte sie, als sie dort standen, wo die anderen Maurice zum letzten Mal gesehen hatten.
"Wenn ich in drei Stunden nicht zurück bin, ruft ihr mich an, okay?"
Eigentlich wäre sie nicht hergekommen. Aber Maurice war dermaßen wichtig und die letzten Tage über hatte sie ihn so schlecht behandelt.
Sie fand ihn an einem Bauzaun entlang stampfend.
"Maurice!", rief sie. Sie rannte auf ihn zu.
"Was machst du hier?", fragte er irritiert.
"Tarik hat mich benachrichtigt. Was machst du hier draußen?"
Er schlug mit geballter Faust gegen den Metallzaun. Es schepperte.
"Was denken sie sich alle?! Diese Tour verläuft nach dem Streichelzoo-Prinzip und niemanden stört es! Da sind lauter Menschen nach den Konzerten, die sich aufführen, als wären sie deine Seelenverwandten. Privatsphäre interessiert die einen Dreck, wenn sie durch Wände laufen könnten, täten sie's. Ich hasse Menschen, Mara, ich hasse unsere Fans!"
Er zerrte an seinem T-Shirt, sie hörte die Nähte an den Ärmeln platzen.
Beruhigend legte sie ihre Hand auf seine Brust, platzierte sie unmittelbar über seinem Herzen.
"Du hast diese Idealvorstellung von Urlaub, wenn du auf Tour gehst, das musst du loswerden. Dann geht dir sowas weniger nah", meinte sie.
Maurice war längst nicht mehr Herr seiner Sinne. Er presste sie gegen den Zaun, küsste sie gierig am Hals, wanderte zu ihrem Schlüsselbein - "Hör auf", sagte sie deutlich. "Nicht jetzt, nicht hier", fügte sie mit leidendem Ausdruck in ihren braunen Augen hinzu.
"Willst du mich heiraten?", sprudelte es aus ihm heraus.
"Was? Oh, Maurice, du weißt nicht was du da sagst."
"Liebst du mich?"
"Natürlich." Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. "Damit hat das nichts zu tun", flüsterte sie.
"Sag ja, heirate mich", forderte er.
"Das geht nicht, das wäre purer Leichtsinn."
"In Las Vegas heiraten sie über Nacht und kennen sich vorher nicht mal, das ist purer Leichtsinn. Bitte."
"Nicht so." Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Atem zitterte als sie ihre Handrücken auf die geschlossenen Lider legte. Eine schwarze Schliere ihrer Wimperntusche lief mit dem ersten Tropfen ihre Wange herab. Er wischte sie weg.
"Du verschweigst mir irgendwas", klagte er.
"Ich kann es dir nicht sagen", verzweifelte sie. "Nicht jetzt."
"Wann dann? Sag mir wann, Mara?", raunte er in ihr Ohr.
Sie umarmte ihn plötzlich so fest wie noch nie. "Weiß ich nicht", nuschelte sie.
Er umarmte sie zurück. Ihr bebender Körper fühlte sich warm an.
"Du bist wunderschön", murmelte er. "Ich sag das viel zu selten ... Und ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen."
"Jetzt fang nicht wieder vom Heiraten an", flehte sie.
"Nein, schon gut." Er küsste sie auf den Scheitel.
Sie löste sich. Ihre Probleme waren gerade ausnahmsweise mal kein Thema.
"Es geht um dich", sprach sie ihren Gedanken laut aus. "Du bist charakterfest, ich bewundere dich dafür. Es geht dir schlecht, das ist okay, nur ... Glaub mir, wenn du die Tour durchziehst, wird es sich gut anfühlen. Auch wenn die Bühne jetzt gerade der letzte Ort ist, an dem du sein möchtest ... Lass uns irgendwo hingehen."
Ein Café lud durch den grauen Himmel im Freien zur gemütlichen Zusammenkunft in bequemen Sesseln und Sofas.
Sie saßen auf der erhöhten Galerie, bestellten Tee, unterhielten sich, küssten sich.
Als sie Maurice am Abend auf die Stage verabschiedete, war er immerhin bereit, die Show zu spielen.
"Bis bald", hauchte sie. Maurice konnte sie schon nicht mehr hören.
Sie wandte sich ab und trat allein den einsamen Weg zum Bahnhof an ...
In ihre Wohnung war eingebrochen worden. Ihre uralte Nachbarin plapperte Schwachsinn, den Mara nicht wahrnahm.
Taub untersuchte sie das schiere Chaos, ließ die totale Verwüstung auf sich wirken. Zertrümmerte Regale, Bücher, denen Seiten fehlten, heruntergebrachte Gardinen samt Stangen ... Die zerrissenen und beschmierten Bilder von Maurice und ihr verrieten Nick. Wer mit dem Falschen gemeinsame Sache macht, der wird vom Richtigen Gerechtigkeit erfahren. Noch 10 Tage, verkündete sein hinterlassener Brief. Ausgeschnittene Buchstaben aus Zeitungen. Eins der Klischees, das er für seine Bücher so gerne nutzte.
Er hatte sie gesehen.
Im Schock sammelte sie die Scherben der Vase auf. Ironischerweise schnitt sie sich nicht etwa an den scharfen Kanten des Porzellans, sondern am Dorn einer weißen Rose.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt