50. Kapitel

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"Wie sieht's aus?"
Maurice beugte sich über Maras Schulter und versuchte einen Blick auf die Zeitungsannoncen zu erhaschen, die sie ausgeschnitten hatte und sortierte.
Seit zwei Wochen arbeitete sie jetzt in einer Eisdiele, aber das war nichts für die Ewigkeit, das wusste er ebenso gut wie sie.
"Ich weiß nicht."
Mara schob die Papierfetzen wahllos hin und her. Irgendwie mochte sie nichts mehr von dem, was sie eben noch halbwegs ansprechend gefunden hatte.
Sie saßen auf der Wiese, links vom Kriegsdenkmal. Mara lehnte sich an Maurice und schloss seufzend die Augen.
Er küsste sie am Hals und blätterte selbst durch die losen Zettel.
Nichts. Das waren alles Jobs für die, die nichts auf dem Kasten hatten. Verkaufen, putzen, kellnern, ... Nichts, das Mara genügend forderte.
"Das wird schon", tröstete er sie.
Es muss, dachte sie. Momentan lebte sie fast zur Hälfte von Maurice und ihrer Mutter. Sie hasste es abhängig zu sein. Ihr fehlte ein wichtiges Stück materielle Freiheit.
"Und wenn du etwas Künstlerisches ausprobierst?", schlug er vor.
"Was meinst du?"
"Na ja. Du liest viel, vielleicht könntest du ein Buch schreiben. Über Graffiti zum Beispiel", zögerte er.
"Schreiben und lesen sind zwei verschiedene Dinge", erwiderte sie, aber er konnte in ihren ehrgeizig leuchtenden Augen sehen, dass sie der Idee nicht gänzlich abgeneigt war.
"Stell dir mal vor ... Du tust dich mit dem Kollektiv zusammen und veröffentlichst ein Kunstbuch, dass eure unterschiedlichen Stile widerspiegelt." Langsam nahm die Sache in Maurice' Kopf Gestalt an.
"Schreiben ist genauso brotlos wie sprayen", resignierte Mara.
"Okay, dann schreibst du eben nicht." Leicht beleidigt stand er auf und streckte sich ausgiebig. Vom faulen Rumsitzen waren seine Beine eingeschlafen. Sie kribbelten unangenehm.
"Ich geh trainieren", verabschiedete er sich und sprang davon.
Mara zerknüllte wütend alle Schnipsel.
Warum musste die Suche nach dem passenden Beruf immer so schwierig sein? Früher dachte sie, das Hotelgewerbe wäre genau das Richtige für sie. Und jetzt? Jetzt verhökerte sie überteuertes Eis in Prenzlauer Berg an die alternativen Eltern des Bezirks und deren vegane Kinder. Jetzt spielte sie mit dem Gedanken, die Labore der Humboldt Universität zu reinigen, bloß weil die Drecksarbeit angemessen bezahlt wurde.
Leo traf sich mit ihr. Er hatte Zeit, wenn Maurice nicht da war.
"An sich geht Künstlerisches doch in die richtige Richtung. Oder nicht?"
"Leo, ich muss Geld verdienen. Leider."
"Ist möglicherweise nicht deine Lieblingsepoche, was da aushängt, aber Museen bieten auch Jobs in ihren Ausstellungen an. Und wie heißt das noch gleich? Die Leute, die alte Bilder reparieren?"
"Kuratoren", antwortete Mara.
Eigentlich war das kein schlechter Einfall. Kuratoren bekamen im besten Fall ein festes Einkommen und arbeiteten zumeist unbefristet.
"Frag doch einfach mal nach. Sonst gibt es auch eine Menge kleine Galerien in Berlin. Die suchen ständig Leute, ich hab mal kurzzeitig für Lumas gearbeitet, die sitzen am Hackeschen Markt."
Sie lächelte ihn an. "Danke, Leo."
"Jederzeit ... Du, weißt du was Carol gerne isst? Hat sie ein Lieblingsrestaurant?"
"Da hat jemand ein Date", neckte sie ihn.
Er verdrehte die Augen, also beeilte sie sich und empfahl: "Mit italienischer Küche kannst du nichts falsch machen. Auf dem Wittenbergplatz gibt es diesen ... Ähm ... Biergarten oder so? Jedenfalls kann man da günstig und lecker essen."
"Wittenbergplatz?"
"Ja." Sie beschrieb ihm den Weg dahin.
"So. Ich muss mich ein bisschen um Maurice kümmern. Ich fürchte, der fühlt sich seit fast einem Monat total vernachlässigt." Sie umarmte Leo.
"Mach's gut, wir sehen uns."
Sie winkte, bevor sie in den Bus stieg ...
Einige Stunden später trug sie ein rotes Kleid mit wenig Schnick-Schnack und imposantem Rückenausschnitt, das ihre Mutter ihr vermacht hatte.
Im Ofen backte die Crème brûlée, auf dem Herd köchelte die Minestrone.
Mara legte vorsorglich den französischen Film ein, den Gabrielle ihr anvertraut hatte. Maurice' alter Liebling in Sachen Gangstertragikkomödie ...
Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, schon als ihm im Flur der appetitanregende Geruch in die Nase stieg.
Mara sah mindestens genauso gut aus wie das Essen duftete.
"Lass uns auf der Couch essen", sagte sie.
"Warte." Er küsste sie auf die Wange und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Nichts Besonderes. Bequemes Zeug. Eine Jogginghose und ein lockeres T-Shirt. Damit sah er neben ihr zwar relativ schäbig aus, aber das interessierte ihn nicht.
"Schlimm?", fragte er trotzdem, als er sie beim Auftuen überraschte.
"Perfekt", lächelte sie amüsiert.
Maurice nahm ihr den vollen Teller aus der Hand und küsste sie wieder.
"Nicht dein Ernst", grinste er, als er das Fernsehbild erkannte.
"Ich hätte sonst noch die Saw-Teile drei bis sechs im Angebot gehabt, aber deine Mutter sagte, das hier wäre dir lieber", zuckte sie scheinbar gleichgültig die Achseln.
Er stellte sein Essen ab und zog sie zu sich. Seine Hände ruhten auf ihrer Hüfte. "Danke, das ist toll", sagte er leise.
"Ich wollte mich revanchieren. Du warst immer für mich da letzten Monat und ich kein einziges Mal wirklich für dich ... Schätze, wenn es heißt: „In guten wie in schlechten Tagen", haben wir die schlechten hinter uns."
"Hoffentlich", lächelte er.
Theoretisch ist es der perfekte Moment, dachte er. Vielleicht sollte er sie doch fragen?
Er beschloss es vorerst zu verschieben ...
"Der Himmel ist so blau."
Mara und Maurice berührten sich nur an den Schultern. Sie lagen auf ihrem Bett, hatten die Balkontür geöffnet und blickten auf die Außenwelt, wo es langsam heller wurde.
"Blau wie wir", grinste Maurice.
Sie hatten viel zu viel getrunken. Ausschlaggebend für seine nächste Aktion.
Er holte das samtbezogene Kästchen aus seiner Jackentasche.
Mara hatte die Augen geschlossen. Sie war wunderschön.
Sie bemerkte seinen Blick und blinzelte ihn an. "Was ist?"
Im Schneidersitz ließ er sich neben ihr nieder, ließ das Kästchen aufschnappen, beobachtete lächelnd, wie ihre Lippen ein O formten.
"Möchtest du mich heiraten?"
Ihre Lippen bewegten sich. Auf und zu. Einatmen. Wieder ausatmen.
Dann hörte Mara auf ihr Herz.
"Ja", entwischte es ihr.
Er beugte sich zu ihr.
Sie erwiderte den Kuss nicht sofort, war zu perplex. Was gerade geschehen war, war unbegreiflich; so unbegreiflich schön.
Seine blauen Augen erzählten von Liebe.
Ihre braunen taten dasselbe, doch um es zu verstärken, sagte sie sanft: "Ich liebe dich."
Und es machte sie beide zu den glücklichsten Menschen diesseits von Eden.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt