1994 - Teil 2

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„Half the populations just waiting to see me fail" 

- The Fighter – Paradise Fears

Ich hatte Mitleid mit Mama. Die nächsten Woche weinte sie noch mehr als üblich. Selbst am Frühstückstisch, wenn ich von oben nach unten kam, vergrub sie ihr Gesicht in ihre Hände und Papa musste sie beruhigen. Er hatte aufgehört zu fragen, was vorgefallen sei, als er mit seinen Freunden weg war, denn er wusste, dass ich ihn sowie so nichts sagen würde. Es war ein Vorfall zwischen Mama und mir gewesen. Papa ging nicht mehr am Abend mit seinen Freunden etwas trinken und es tat mir leid, dass ich der Grund war, warum er glaubte sich einschränken zu müssen.

Es war an einem sonnigen Freitagnachmittag Anfang Juni, als Romeo und seine Freunde mich und Paul auf der Hofpause abfingen. Ich hatte mich gerade mit Paul über das Verhalten meiner Mutter unterhalten und er hatte versucht seine eigenen Erfahrungen mit denen von meinen zu vergleichen, bevor Romeo quer über den Hof meinen Namen rief und sich lässig auf mich zu bewegte. Es war wieder so heiß, wie die letzten Jahre, sodass Paul und ich uns wieder unter die Eiche auf die Bank quartiert hatten. Er rückte näher zu mir und flüsterte, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Ich nickte leicht ohne ihn anzugucken, mein Blick auf Romeo fixiert, der mit jeden Schritt näher kam. Ich hatte keine Angst vor ihm. Das einzige Gefühl was ich hatte, war Neugierde, was Romeo von mir wollte. Was konnte so wichtig sein, dass er meinen Namen rief? Seine beiden Freunde, der dicke und der mit der krummen Nase, rannten schwitzend hinter im her. Ich konnte ebenfalls Neugierde in ihren Mienen erblicken, so wie es bei mir der Fall sein musste.          

„Hey Marie!", Romeo kam vor mir zum stehen.

 „Hallo, Paul", er nickte ihm kurz zu, schenkte mir dann aber wieder die ganze Aufmerksamkeit, „wollen wir was kaufen?"

Ich merkte den durchdringenden Blick von Paul in meiner Seite: Das machst du doch nicht, oder? Und ich merkte ebenfalls die entgeisterten Mienen von Romeos Freunden: Wir können auch was kaufen, warum fragst du denn die da? Aber ich schaute weiterhin nur Romeo ins Gesicht, dessen rote Farbe langsam wieder in ein helles rosa verblasste. Seine Sommersprossen hatten sich vermehrt und bedeckten seinen ganzen Nasenrücken.

„Warum?"

 „Nur so, ich dachte du brauchst mal ein paar Freunde außer den da", er nickte in Pauls Richtung, der unruhig umher rutschte. Romeo grinste von einem Ohr zum anderen und lächelte.

„Was willst du, das ich tue?", fragte ich und ignorierte seine Anspielung, dass Paul kein richtiger Freund war, gekonnt. Romeos Freunde Gabriel, der Fette, und Thoben, der mit der krummen Nase, hüpften von einen Bein aufs andere. Sie konnten es wohl nicht erwarten, dass ich zustimmte, was auch immer Romeo vorschlagen würde.

„Komm einfach mit, erfüll' die kleine Aufgabe, die wir für dich haben und du gehörst dazu", Romeo schaute mich auffordernd an. Dazu? Konnte ich wirklich richtig dazu gehören? Richtige Anerkennung bekommen und mit anderen um die Häuser ziehen, weil ich dazu gehörte? Dieses Wort löste eine warmes Gefühl in meinem Bauch aus, mehr als tausende Schmetterlinge es je könnten. Ich merkte den argwöhnischen Blick, den Paul Romeo zuwarf.

„Ja, dazu." Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich es laut gefragt hatte. Ich zögerte eine Weile. In meinem Kopf flogen hunderte von Fragen umher, die ich mich nicht traute zu stellen. Warum ausgerechnet mich – bestimmt wegen meinen Arm, es ging immer um meinen Arm – und warum ausgerechnet heute?

'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt