2000 - Teil 2

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„And do we really mean it, when we say He loves us all?

And do we really believe it when they say that we're created equal?

Of course I do"

- Same Love – Paradise Fears

Am nächsten Tag hörten wir in den Nachrichten, dass der Mann in der Tankstelle tot auf gefunden worden war. Die Polizei hatte die Videoaufnahmen überprüfen wollen, aber feststellen müssen, dass es keine gab. Jonas kam an den Tag mit einem Lächeln in die Schule und hatte mir zugenickt. Unterhalten hatten wir uns nicht. Im den Artikel stand außerdem, dass Hinweise an die Polizei weitergegeben werden sollten, falls irgendjemand etwas gesehen haben sollte.

 Die nächsten Wochen vergingen wie ein eisiger Wind. Jonas und ich besuchten uns nicht mehr und mein Herz wurde jedes mal schwer, wenn wir uns zusammen mit Dexter und Monicé in der leeren Fabrik trafen. Sobald eine neue Woche verging, atmeten wir erleichtert auf. Mit jedem vergangen Tag war es unwirklicher, dass jemand uns gesehen und es der Polizei gemeldet hatte. Wir mussten Monicé jedes mal davon abhalten, der Polizei alles zu gestehen, denn obwohl Jonas den Mord begangen hatte, lastete er noch mehr auf ihrer Schulter. Dexter und Jonas gingen weiter ihr Geschäft nach als sei nichts gewesen. Der exzessive Konsum an Alkohol und Drogen nahm weiterhin zu und auch ich blieb nicht verwehrt mich öfters dazu zugesellen. Auf der abgewetzten Couch saß ich immer Jonas gegenüber, der ungeniert mit Monicé flirtete und mit fremde Mädchen betatschte. Die meiste Zeit saß ich mit meinem Glas dort und beobachtete ihn. Und er beobachtete mich. Sein Blick wich keine Sekunde und die Lücke, die sich zwischen uns auftat war unendlich, aber dennoch so nah, dass man sich mit den kleinen Finger hätte berühren können.

Ein weiterer Monat später und Mama hatte wieder angefangen zu trinken und mir ihre miese Laune und Aggressionen abzutreten. Wenn ich mich nicht in meinem Zimmer einschloss oder unten alles vor Wut um schmiss und ihr Wörter ins Gesicht schlug, war ich irgendwo draußen. Viel zu oft an der Tankstelle, wo ich meine Freiheit für einen kurzen Zeitraum wiedergewonnen und Jonas jemanden erschossen hatte. Es entspannte mich zusehen, wie die Menschen hielten und ihre Autos tankten. Wie manche jungen Männer mit den Playboy zurück kamen. Mit Paul wechselte ich noch immer kein Wort.

Eine Woche später schlief ich wieder mit Jonas, als wir uns zufällig über den Weg liefen. Danach rauchten wir etwas von seinem Cannabis und blieben zugedröhnt die ganze weitere Nacht zusammen. Er sagte mir schwankend, dass er, wenn er mich sieht, an den Tod des Mannes denken muss. Er hatte irgendwie schiss, dass doch alles mal raus kommen würde. Es wäre dann meine Schuld. Ich nickte nur zustimmend, es war alles doch irgendwie meine Schuld gewesen. Mein Armstumpf juckte höllisch und drückte meinen Joint an ihm aus. Die leichte rote Verbrennung war noch Tage später zu sehen.

Den Freitag darauf, lud Jan mich zu seiner Party ein. Dass war das Wiedersehen mit Paul.

♦♦ ♦♦

Jan war schon immer ein schüchterner Junge gewesen. Er war nie der Typ, der andere Menschen von sich beeindrucken wollte. Er lebte in seiner eigenen, kleinen, heilen Welt. Um so überraschender war ich, dass er mich, Paul und Nadine zu einer, wie er es nannte, Party eingeladen hatte. Ich sagte, dass ich kommen würde, obwohl mir es unangenehm war das Paul dabei sein würde. Nadine hatte ich lange nicht mehr gesehen. Bis Samstagabend war ich die ganze Zeit angespannt gewesen, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Es kamen ein paar blutige neue Wunden an meiner Hüfte dazu.

Ich konnte leise Musik hinter mir hören, das Knacken des Feuers und die weiche Stimme seiner großen Schwester, die Geschichten über Jan erzählte. Wie sie vorletzten Jahres auf einem Camping-Ausflug waren oder wie er zum ersten Mal ihren Kajalstift geklaut hatte. Sie erzählte, wie schlecht er tanzen konnte und ich schaute Jan von der Seite an und lachte. Sie erzählte, wie er sie früher immer geneckt hatte und welche Namen sie sich gegenseitig gaben. Sie erzählte endlose Geschichten, die mich alle faszinierten, und ich fragte mich, warum Jan diese andere Seite seines Selbst uns nie gezeigt hatte. Der Song „I Don't Dance" von Lee Brice war im Hintergrund zu hören und ohne nachzudenken, nahm er meine Hände, zog mich hoch und wirbelte mich herum während er glücklich lächelte und versuchte zum Takt der Musik zu tanzen. Verwirrt schaute ich ihn an und fragte ihn was er da tat, wirbelte aber weiter mit ihm durchs Zimmer.

'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt