„The walls are singing,
Hallelujah amen"
- Sanctuary – Paradise Fears
Ich sah meine Mutter die nächsten Wochen kein einziges Mal. Sie war nie da, besorgte sich neuen Alkohol, neue Zigaretten oder was auch immer. Sie besorgte sich etwas, was die Leere in ihr füllte und auch wenn das Loch in mir sich immer weiter ausbreitete, versuchte ich einen anderen Weg zu finden, um dieses zu füllen oder am Wachsen zu hindern. Ich musste erst wieder nach den Osterferien in die Schule, weswegen mir noch drei Wochen blieben, um anzufangen mich zu sammeln oder es wenigstens zu versuchen. Ich versuchte tausende Dinge wie neue Sportarten anfangen, mich ins Café zu setzen und Leute zu zeichnen, in der U-Bahn Menschen zu beobachten, mich in der Bibliothek durch alle möglichen Bücher zu lesen, doch nichts erfüllte mich mit Leben, nachdem ich mich so sehr sehnte. Und deswegen ging ich an einem kühlen Sonntagmorgen die Kirche. Ich glaubte nicht an Gott, aber vielleicht an eine höhere Macht, an irgendwem, an irgendetwas, was mir vielleicht Geborgenheit schenken konnte. Der Gottesdienst hatte gerade angefangen und so wartete ich draußen bis er vorbei war, weil ich nicht stören wollte, mich nicht zugehörig fühlte und mein Nicht-Glauben-An-Gott dort meiner Meinung nicht angebracht war.
Ich schrieb mit Paul und teilte ihm mit wo ich mich befand, als er mich fragte, warum ich so früh auf war, noch dazu am Wochenende. Ich teilte ihm mit, dass ich so gut wie die letzten Monate keinen geregelten Alltag, noch dazu Schulalltag gehabt hätte und er stimmte mir mit einem Lach-Smiley zu. Er war der Einzige mit dem ich noch einen Kontakt pflegte und der nicht auf mich einredete und mir weismachen wollte, dass ich weiterleben sollte, weil es genau das wäre, was mein Papa gewollt hätte. Von Jan und Nadine hatte ich mich so gut wie ganz distanziert. Das letzte Mal hatte ich sie in der Rehaklinik getroffen, wo sie mir Schokolade und eine Karte mit besten Genesungswünschen gegeben hatten.Sie versuchten es wirklich, aber das war im Moment nicht gerade das was ich brauchte. Ich brauchte jemanden, der mich verstand, auch wenn ich nicht redete. Und Paul war genau dieser jemand gewesen. Wir saßen stundenlang in der leeren Fabrik und schwiegen, schauten uns die gesprayten Kunstwerke und Poesiesprüche an den Wänden an, lauschten den Krähen, die über unseren Köpfen hinweg flogen. Wir machten alles, außer zu reden. Jedes mal, wenn ich Alpträume hatte konnte ich ihn anrufen. Er legte dann sein Hörer immer auf sein Kissen und schlief weiter, während ich seine ruhigen Atemzüge lauschen konnte. Er war mein Zuhause geworden, nachdem ich meines endgültig verloren hatte.
„Alles okay mit Ihnen?", eine Frau mittleren Alters fasste mich am Arm an und schaute mich besorgt an. Aus den Augenwinkel bemerkte ich, dass der Gottesdienst vorbei war und die Besucher, an meisten Ältere, hinaus strömten.
„Ja, Dankeschön", lächelte ich und ging entgegen den Strom in die Kirche hinein. Die Wärme war so überraschend, dass ich tief Luft holen musste. Die Kirche war zwar in Vergleich zu den meisten anderen ziemlich klein, aber dadurch nur noch gemütlicher. Es war das erste Mal in meinen Leben, dass ich in dieser Kirche oder überhaupt einer Kirche war. Unbeholfen stand ich am Eingang, bevor ich den Gang zum Altar entlang ging und mich links auf einer der Holzbänke niederließ. Nervös, mit den dummen Gedanken, was ich den hier überhaupt mache und mir davon erwarte, schloss ich die Augen. Und ich spürte diesen Hauch, diesen Griff von übernatürlichen an meiner Schulter, dass ich scharf die Luft einsog. Das erste Mal seit langem spürte ich etwas wie Glück, Lebensfreude, Liebe. Danach vernahm ich nur noch die Stille.
Es hätte Ewigkeiten so weitergehen können, doch irgendwann war die Magie weg, die Luft war draußen, wie man so schön sagt. Ich öffnete wieder meine Augen und erschrak, als ich Paul neben mir sitzen saß.
„Hab' ich dich überrascht?"
„Kann man wohl sagen", ich lächelte ihn schief an.
„Sie kann doch noch reden", meinte er ebenfalls lächeln und ich konnte mich nicht satt sehen an seine sich entfaltenden Grübchen. Die letzten Worte, die ich an ihn gerichtet hatten lagen Monate entfernt unter Medikamentösen Behandlungen begraben. Ich merkte, wie er seinen Blick auf den Altar richtete und gerade und entspannt dort hinschaute. So eine Gelassenheit und Ruhe hatte ich lange nicht mehr bei mir selbst verspürt. Auch richtete meinen Blick auf den Altar und zusammensitzend schwiegen wir.
„Gott existiert nicht", sagte er, sodass er nicht sehen musste, wie es schmerzte, dass zu hören.
„Er existiert", wisperte ich und schaute ihn von der Seite an, während er immer noch nach vorne schaute. Eben hätte ich ihn noch zugestimmt, vor das allem hier, aber jetzt, nach dieser Begegnung und Kraft eben war ich mir nicht mehr so sicher.
„Ich glaube es nicht."
„Wenn Gott nicht existiert, an was glaubst du dann?" An was sollte ich dann sonst glauben, wenn nicht an Gott, der für alle doch so selbstverständlich war? Ich konnte sehen wie er überlegte, bevor er mir eine Antwort gab.
„Oh Gott, dass wird jetzt echt kitschig", er lachte nervös und suchte in meinen Augen nach irgendetwas was in zu verstehen gab, dass er ruhig kitschig sein durfte, aber in meiner Miene reckte sich nicht.
„Ich glaube in Sterne und Sommersprossen. Ozeane, die Tiefe und endlose Augen. Berge und Herzen aus Gold. Eine Hand zu halten oder eine Seele, die sich mit meiner verbindet", er nahm meine Hand in seine, „Mein Gott, Marie, ich habe mich dazu entschieden an dich zu glauben."
„Ich bin nicht mehr die, die ich letztes Jahr war."
„Menschen verändern sich."
„Du verstehst nicht...", ich schüttelte den Kopf und ließ seine Hand los, „du kannst nicht an mich glauben. Ich kann das doch selbst im Moment nicht mehr."
Wir schwiegen wieder, bis ich zu meinen vorher gesagten anschloss: „Ich glaube, ich bin im Moment ein richtiger Hurrikan. Da ist nichts mehr an Ort und Stelle."
„Ich lass dich ein Hurrikan oder ein Orkan sein oder meinetwegen ein riesiger Tsunami", sagte er zu mir, „solange in ein Teil deiner Zerstörung sein kann."
„Warum sollte man das wollen?", fragte ich vorsichtig, „hast du den Wunsch verletzt zu werden?"
„Nein", lächelte er, „Ich denke nur, jeder wird einmal in seinem Leben von jemanden verletzt werden und du weißt nicht wie glücklich ich wäre, wenn ich das von dir werden würde."
Ich lachte.
„Du bist krank."
„Nein, ich meine das ernst", als er merkte, dass ich immer noch nicht glauben wollte, überkreuzte er seinen Mittelfinger mit seinen Zeigefinger zu einem X über seiner linken Brust.
„Du bist da", sagte er leise, „Hast du das vergessen?"
Und ich wusste, dass er alles ernst meinte. Und ich wusste, dass ich anfangen musste daran zu glauben.
„Nein. Wie könnte ich?"
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'Bin Ich hübsch, Mama?'
Dla nastolatkówIch bin als Monster geboren worden, werde als Monster weiter leben und auch als eines Sterben. Zwischendurch versuche Ich ein Mensch zu werden.