1999 - Teil 4

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„Brown-eyed possibility,

You're more than I could ever need."

- Say My Name – Paradise Fears


„Schön, dass ich dich endlich mal wiedersehe", Paul hielt mich an beiden Schultern fest und schaute mir intensiv in die Augen. Ich wollte meinen Blick abwenden, weil es mir unangenehm war, so angestarrt zu werden, doch er ließ mich nicht. Seine Hände hielten mich in Position.

„Mhhh, ja, ich dich auch", grinste ich schief.

 „Wie gehst dir denn?", er ließ mich endlich los und ich fing an mit den langen Ärmeln meines Pullovers zu spielen. Ich dachte lange über diese Frage nach ehe ich antworte. Mir erschien es, als würde ich kein „Gut" oder kein „schlecht" herausbekommen, weswegen ich mich für den Mittelweg entschied.

„Ich weiß es nicht". Und dass, wusste ich wirklich nicht. Es kam mir so vor, als würde mir mein eigener Körper meinen Gemütszustand verschweigen.

„Na gut", sagte Paul nach langen Zögern und nochmals intensiveren Blick. Derweil schaute ich mich noch einmal in der verlassen Fabrik um, bevor ich mich auf den dreckigen Boden setzte und an die Wand lehnte. Paul setzte sich neben mich und wir schwiegen.

Es war komisch, dass diese Stille hier eine ganz andere Bedeutung hatte. Hier hatte ich damals nach meinen Unfall und nach Papas Tod mit Paul an genau der gleichen Stelle gehockt und Krähen beobachtet. Und die alten Graffiti angestarrt, bis das Bild zu einem einzigen Farbklecks verschwommen war. Ich zog meine Knie an meinen Oberkörper und biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei, mich solange von Paul ferngehalten zu haben. Doch ich hatte Angst vor seinen Fragen und vor seinen Blicken, wenn ich von Jonas erzählte. Und vielleicht das Erste Mal, was wir miteinander verlebt haben.

 „Und wie geht es dir?", ich fühlte mich gezwungen diese Frage zu stellen, daran gab es kein Zweifel.

„Wie soll's mir schon gehen?", lächelte er gequält, „Du hast mir gefehlt, Marie". 

 Er machte eine Pause, in der ich hätte was sagen sollen, doch ich schwieg penetrant. Alles fühlte sich so weit weg an. Paul sprach weiter.

„Ich war oft mit Natalie zusammen unterwegs oder wir haben Hausaufgaben gemacht und so nen Zeugs. Meine kleine Schwester ist glaube ich verliebt, kannst du dir das vorstellen?" 

 Er lachte auf. Auch ich grinste leicht, aber nur aus Höflichkeit. Ich war mit meinen Gedanken bei meinem Vater, bei Jonas und bei meiner inneren Wut.

 „Marie, irgendwas ist doch! Ist es wegen Jonas?"

„Nein, nein, mit dem ist alles super", lächelte ich gekünstelt. Ich war mir sicher, dass Paul mich durchschaute.

„Und dass mit deinen Pullis?", fragte er vorsichtig.

 „Da ist nichts", sagte ich schroff und warf ihn einen Bösen Blick zu.

 „Ich bin nicht dumm, Marie. Wir kennen uns schon ewig, denkst du nicht ich wüsste, was hier vorgeht? Seit dem Tod deines Vaters bist du nicht mehr dieselbe", er wollte meine Hand nehmen, doch ich zog sie wütend weg.

„Was willst du von mir? Denkst du ich brauche dein Mitleid? Nein! Lass' mich verdammt noch mal mit das alles in Ruhe", ich sprang auf, klopfte den Staub an meiner Hose ab und wollte gehen. Doch genauso blitzschnell stand Paul neben mir und hielt meine Hand.

„Ich kenne die Narben, Marie", sagte er ruhig. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich versuchte sie abzuschütteln.

 „Ich bin müde, Paul, ich glaube ich gehe zu Tante Maja".

Für mehr als ein paar Sekunden schauten wir uns beide in die Augen.

                                                                                                                                                                                                           „Du siehst immer nur deine Makel", sagte Paul, „Du zeigst müde Augen, aber ein gequältes aufgesetztes Lächeln. Und schwache Knie, über die du schon so oft gestolpert bist. Und das immer und immer wieder. Du sagst du bist Egoistisch und gemein und wütend und grausam."

Er atmet schwer und Schweiß perlte an seine Stirn hinab.

„Aber wenn ich in deine Augen schaue, sehe ich so viele nicht erfahrene Geschichten", flüsterte er, „Ich sehe Feuer und Leidenschaft und Intensität hinter deinem gedämpften Schein; und ich sehe jemanden, der sterben würde, um glücklich zu sein."

Mein Herz schlug so schnell und so laut, dass ich Angst hatte er würde es hören. Ich studierte sein wunderschönes Gesicht. Fuhr in Gedanken mit meiner Hand seine Gesichtszüge nach.

„Verdammt!", er nahm meine Hände noch fester in seine, „Ich schwöre, wenn du dich so sehen würdest wie ich dich, dann würdest du nie wieder traurig sein. Wenn du dich so lieben würdest, wie ich dich liebe, du würdest keine einzige Sekunde dafür verschwenden, um daran zu zweifeln."

Ich musste schwer schlucken. Ich spürte wie die kleinen Männer meine Kehle zuschnürten, wie sie in meinen Gehirn Umleitungen anlegten und wie mein Herz ummauert wurde. Er konnte mich nicht verstehen.

„Verliebe dich bloß nicht in mich", war das Einzige, was ich in diesem Moment sagen konnte. „Ich bin voller Widersprüche. Mal bin ich kalt und mal bin ich glücklich. Mal ziehe ich dich unglaublich nah an mich heran und eine Sekunde später stoße ich dich wieder weg. Du wirst mich nie verstehen, ich verstehe mich ja selber nicht einmal."

Er schüttelte für ein paar Sekunden einfach nur seinen Kopf bis er mir antwortete, als hätte ich überhaupt nichts gesagt.

„Du bist wunderschön, Marie". Ich bin nicht hübsch, noch nicht einmal durchschnittlich.

 „Weißt du noch?", er überkreuzte sein Mittelfinger mit seinen Zeigefinger langsam zu einem X.

 „Lass' das, Paul. Dass zählt nicht mehr, wir sind keine Kinder mehr".

Und ich ging ohne zu schauen, wie Pauls Herz zerbrach, denn das hätte ich nicht ertragen können. Es ist besser, redete ich mir ein, es ist besser so, denn ich will niemanden mehr verletzen.

Ich wurde mit tragik in meinen Blut geboren und Verzweiflungen in meinen Knochen. Mit einem Riss in meinem Herzen, welcher seit den Tod meines Vaters, jeden Tag einen Millimeter mehr reißt. Ich habe mit der Depression ein Vertrag abgeschlossen seit ich auf das Gynasium kam. Manchmal denke ich, dass meine Mutter mich mit einer Armee von Dämonen verflucht hat. Ich bin einfach nur ein Fehler des Systems in dieser großen weiten Welt.

Und Paul hat es nicht verdient durch dieses Fehler einen Virus zu bekommen.


'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt