„Black and white,
frozen in time"
- Color – Paradise Fears
Ich zog meine Jacke aus, als ich bemerkte, wie warm es doch eigentlich schon war. Der Sommer stand schon fast vor der Tür und die ersten Lehrer zeigten schon Filme, anstatt weiter mit dem Stoff fortzufahren, der hätte in dem nächsten Schuljahr schon dran kommen müssen. Auf dem Nachhauseweg holte mich Jan ein und hackte sich bei mir ein. Ich hatte ihn lange nicht mehr gesehen, weswegen ich ihn gewährte und ihn anlächelte.
„Was machst du in den Ferien, Marie?", fragte er und spitzte die Lippen. Mir fiel auf, dass er einen schwachen Kajalstrich um die Augen trug und dass sein strohblond dunkler geworden war. Ich hatte ihn so lange nicht mehr wahrgenommen.
„Ich fahre mit Jonas weg", sagte ich tonlos. Dass stimmte, doch meine Freude war der Angst gewichen, der Ehrfurcht, seit wir miteinander geschlafen hatten. Seit Paul und ich uns gestritten haben. Weil ich mich dumm angestellt hatte und mich verschlossen habe. Seit dem Tag, es sind jetzt schon fast 3 Wochen vergangen, haben wir nicht mehr miteinander geredet. Wie ein Geist bin ich in der Schule mit gesenkten Kopf umher gewandelt, immer hinter Jonas und seinen Freunden her.
„Denn gibst noch?", fragte Jan überrascht und warf mir einen anerkennenden Seitenblick zu.
„Was heißt denn das: Denn gibst noch?", gab ich bissig zurück. Ich war schon drauf und dran mich loszureißen und diesen ganzen Scheiß hinter mich zulassen. Doch Jan hielt mich eisern fest.
„Ach, dass war doch nur Spaß! Er ist ein richtiges Sahneschnittchen", sagte er verträumt und ich musste lachen. Es kam direkt vom Herzen und es war warm.
„Aber jetzt mal ehrlich, wir haben lange nicht mehr miteinander geredet. Wie geht es dir?", er kniff mir aufmunternd in die Seite. Ich lächelte schief.
„Ich hasse diese Frage", murmelte ich. Die frischen Narben an meiner Hüfte scheuerten am Bund der Jeans. Sich darauf zu fokussieren verschlimmerte den Schmerz nur.
„Mhhh, du hast recht. Ich auch."
Wir liefen beide schweigend nebeneinander her und ich merkte, wie sehr ich ihn vermisst habe. Wie sehr ich Paul vermisste. Auch wenn ich einfach in der letzten Zeit sehr angepisst, abwesend und monoton war, war es immer noch etwas anderes jemanden zu haben mit dem man reden könnte, aber jetzt. Seit Papas Tod bin ich vollkommen statisch durch die Gegend gelaufen, habe gedacht, dass ich Gott gefunden habe, nur um festzustellen, dass er schon lange tot ist. Ich habe mit Jonas geschlafen und mir Beleidigungen und Abweisungen an den Kopf knallen lassen, nur um mich ein klein wenig lebendig zu fühlen. Habe mich mit Paul zerstritten, weil mein egoistisches Herz glaubte, keine Nähe zu brauchen.
Mir geht es doch gut.
„Telefonieren wir mal wieder?", Jan legte seine beiden Arme um meinen Hals und schaute mir in die Augen. Ich war gezwungen ja zu sagen, und voller Freude drückte er mir ein Kuss auf die Wange.
„Marie, ich kann dir immer noch helfen, deinen Arm zu finden",flüsterte er mir ins Ohr.
♦♦ ♦♦
Ich umarmte Tante Maja noch mal fest und prägte mir ihren Geruch ein, bevor Jonas noch einmal hupte, um mir weiß zu machen, er wolle jetzt losfahren.
„Ja, ja", schrie ich ihn zu, und winkte abweisend mit der Hand.
„ Geh' schon", lächelte Tante Maja. Ich schaute sie einen kurzen Moment an, bevor ich entschlossen nickte. Es fühlte sich irgendwie wie ein Abschied für immer an.
♦♦ ♦♦
Zweieinhalb Wochen an der Ostsee zu verbringen war zwar nicht gerade mein Traumurlaub, dennoch erlaubte ich es mir glücklich zu sein und mich zu Freuen, da ich zum ersten mal richtig das Meer sehen und spüren würde. Ich malte mir diesen Augenblick malerisch aus.
Ich sah, wie langsam das Meerwasser über meine Arme lief. Eiskalt, aber klar. Und ich spürte, wie der salzige Wind durch meine Haare fuhr. Und da waren sie wieder, die Narben, die die letzten Monate besser beschreiben als irgendein Text. Doch hier am Strand, viele Kilometer von Zuhause entfernt, brannten sie stärker, als sonst irgendwo. Meine Gedanken flogen in meinen Kopf umher und ich malte Kreise in den Sand, die von der nächsten Welle schon wieder mitgenommen wurden. Der Ozean faszinierte mich und die weite Ferne löste in mir eine ungeheure Angst aus, die sich in meiner Brust festsetzte. Ich entfernte mich von dem Wasser und ließ mich ein paar Meter weiter auf unsere Handtücher nieder. Meine nackten Beine waren durch ein Tuch verhüllt und eine leichte Strickjacke verdeckte meinen Oberkörper. Ich kam mir unglaublich fremd vor. Ich nahm ein Schluck von der Wasserflasche aus unseren Rucksack und beobachtete Jonas, der im Ozean war.
Er gehörte dem Meer. Die brechenden Wellen besaßen ihn mehr, als das Haus in dem er wohnte. Das rauschen des Wassers und der heulende Wind waren Seins. Alles gehörte ihm. Ich fühlte mich so fehl an diesen Platz. Er kam aus dem Wasser und das Salz klammerte sich an die Enden seines dunklen Haares und an seine Fingerspitzen und in diesem Moment ähnelte er nicht einer Person, sondern einen Sturm.
„Das war echt unglaublich", jubelte er und tanzte durch den Sand, er sprach nicht mir mir, sondern mit sich selbst. Ich merkte, wie der Polarstern vom Himmelszelt verschwand, als der Seemann in die Tiefe stürzte. Vielleicht ist er jetzt für eine längere Zeit weg, dachte ich. Ich verlor eine Menge, als ich ihn verlor. Ich schaute ihn traurig an.
„Was ist denn jetzt schon wieder, Marie?", fragte er genervt.
„Nichts", sagte ich und beobachtete, wie er sich mit seinem Handtuch ab rubbelte. Vielleicht war er einfach nur ein einsamer Seemann, der mit seinen Schiff untergegangen ist. Es verging eine Weile, in der wir stillschweigend nebeneinander saßen. Wir sahen verschmolzene Menschen lachen mit gefrorenem Atem und ich sah Jonas von der Seite an, doch er wich meinen Blick aus: „Es ist ganz schön kalt geworden."
Ich frage mich, was genau er damit meinte, aber ich schwieg. Nach einer Weile spürte auch ich die Kälte.
♦♦ ♦♦
„Ich glaube, ich habe alles", sagte ich und ließ mich neben Jonas auf den Beifahrersitz fallen. Er nickte nur. Wir fuhren an und bald waren wir wieder auf der Autobahn Richtung nach Hause. Bevor das letzte Fleck Meer verschwand, berührte ich es noch einmal an der Autoscheibe.
Eines Tages werde ich wieder an der Küste stehen, das Meer sehen. Die kühle salzige Luft einatmen, ein Stück Freiheit in meine Lungen lassen. Nichts außer endlosem Wasser in der Ferne sehen. Das Rauschen der Wellen bis sie an die Felsen Klatschen, wird in meinen Ohren wieder wie ein vertraute Melodie sein.
Genau dann werde ich glücklich sein.
Versprochen.
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'Bin Ich hübsch, Mama?'
Teen FictionIch bin als Monster geboren worden, werde als Monster weiter leben und auch als eines Sterben. Zwischendurch versuche Ich ein Mensch zu werden.