1995 - Teil 3

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„So Hallelujah amen, 

 holy whatever, 

bless your soul"

- Intro (Prelude) - Paradise Fears

Die erste große Veränderung die eintrat war am Ende der Sommerferien, als ich bei Nicole übernachtete und ich meinen Glauben fand. Wir trafen und vorher auf dem Spielplatz mit Jan, aber nicht mit Paul, da er und seine Familie den Sommerurlaub in Spanien am Meer verbrachten. Um ehrlich zu sein vermisste ich ihn schon sehr. Auch Nadine vermisste ihn, dass spürte ich ungemein. Aber dennoch war ich nicht eifersüchtig oder sauer, sondern konnte es verstehen. Nicoles Mutter saß auf einer Bank und unterhielt sich mit einer anderen Mutter angeregt über die diesjährigen Vereinswettbewerbe. Sie war Vorsitzende verschiedenster Vereine, machte Wohltätigkeitsveranstaltungen, backte eigentlich jeden Tag Kuchen und Kekse für bedürftige Kinder und war ziemlich organisiert, dynamisch und arrangiert. Und sie war die Einzige, die von Anfang an nicht auf meinen Arm geschaut oder nach gefragt hatte, sondern mich sofort aufgenommen und durchgefüttert hatte und das mochte ich so sehr an ihr. Ihre unkomplizierte und vernünftige Art. Wir spielten auf der großen Sandfläche und beschossen uns gegenseitig mit Sand, bis allmählich unsere ganze Kleidung körnig und unangenehm auf der Haut war.

„Du bist echt doof, weißt du das?", schrie ich lachend und wich einer großen Portion Sand aus, die Jan mir mitten ins Gesicht werden wollte. Nadine hatte sich flink hinter einem kleinen Spielhäuschen versteckt und lugte nun vorsichtig dahinter hervor.

„Und was bist du dann? Ein Oberdümmchen?" Weiter lachend nahm ich ebenfalls eine Portion Sand in meine kleine Hand, zielte auf Jans Stupsnase und warf. Anders als ich, versuchte er nicht auszuweichen, sondern stellte sich mit weltoffenen Armen gerade hin und ließ den feinkörnigen Sand wie hauch dünnen Regen über sich rieseln.

„Du hast mich getauft!"

„Hab ich das?", fragte ich neckisch und bewegte mich vorsichtig auf ihn zu, in der Ahnung, dass er auf einmal sich vorne über beugend eine Hand voll Sand nehmen und mich damit bewerfen wird. Doch er tat es nicht, sondern stand immer noch wie eine Statue da.

 „Ja", er nickte eifrig, „Ich steh' jetzt unter deiner Religion."

„Ich habe gar keine Religion." Und das stimmte. Papa war Atheist und Mama zwar Katholiken, aber sie hatte sich nie die Mühe gemacht mich taufen zu lassen noch sonntags mit mir in die Kirche zu gehen.

„Wie du hast keine Religion?", fragte Nadine aufgebracht und hüpfte aus ihren Versteck hervor.

„Na ja, ich bin Atheist." Nadine und Jan schauten sich beide verwundert an und ich erinnerte mich, dass beide getauft und zu Katholiken herangezogen wurden. Jan schüttelte ungläubig seinen Kopf nach links und rechts, sodass feine Sandkörner aus seinen blondem Haar in alle Richtungen flogen.

„Was ist das?", fragte Nadine ganz vorsichtig, so als würde sie nach der alles gefürchteten Hölle fragen.

 „Ich glaube, dass man an nichts glaubt", erwiderte ich Stirn runzelnd. War es denn schlimm an nichts zu glauben? Kein Gott zu haben, zu dem man hoch schaut, sondern Hilfe in sich Selbst oder anderen zu finden?

 „Du kannst gar nicht an nichts glauben", sagte Jan entsetzt.

„Oder an jemanden", setzte ich noch hinzu. Als würde das alles erklären.

„Das kannst du auch nicht", Jan schüttelte wiederholt wild mit den Kopf, „Wie stellst du dir das denn vor?"

„Na ja, ich bete zu niemanden."

 „Aber glauben heißt nicht gleich beten", stellte Jan klar und nahm meine Hand - die linke, denn die rechte war ja nicht vorhanden – und schaute mir tief in die Augen.

„Ich glaube an dich. Und das ist auch schon der größte Glaube, den man besitzen kann."

„Dann glaube ich auch an dich."

Und dann hatte ich auf einmal einen Glauben und da Jan Katholiken war, konnte ich in jeder Kirche, die ich danach betrat seine Nähe spüren. Es war ein wirklich kostbarer Glaube, den Jan mir schenkte, aber gleichzeitig auch den schönsten, den ich besitzen konnte. Ich blieb still, schaute Jan nur an und musste feststellen, dass ich froh war ihn kennen zu lernen und in der Zukunft hoffentlich noch weiter wachsen sehen zu können. Seine verspielte, zurückhaltende und auch etwas naive Art war mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich nicht mehr loslassen wollte. Nadines Mutter war diejenige, die jedes damalige existierende magische, unsichtbare Band zwischen uns durchbrach und Nadine und mich zum Nachhause gehen aufforderte. Auch Jans Mutter rief nach ihrem Sohn und als der sich widerwillig von mir ab wand, überlief mich ein eiskalter Schauer. Während Nadines Mutter alles zusammen packte, beobachtete ich wie Jans Mutter den Sand aus den blonden Haaren wuschelte und ihm ein Stück Apfel in die Hand gab. In mir keimte sich Traurigkeit an, den so etwas hatte ich mit meiner Mutter noch nie erlebt. Und es schmerzte irgendwo tief in mir drinnen, obwohl ich immer dachte, dass es mir egal wäre, da ich ja Papa hatte. Doch anscheinend war dem nicht so. Vielleicht brauchte jedes Kind eine gewisse Dosis Mama und Papa Momente.

„Lass uns los, Marie", sagte Nadines Mutter und legte ihre Hand auf meine Schulter. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sie ihre Sachen zusammengepackt hatte und jetzt mit ihrer Tochter an der Hand darauf wartete, dass ich mich meinen Gedanken entreiße.

„Ja", antwortete ich und winkte Jan noch zum Abschied zu. Er winkte mit freudestrahlenden Augen zurück.         

'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt