1992 - Teil 5

529 66 11
                                    

„Die sind für dich!"

Gelbe Maiglöckchen verdeckten das hübsche strahlende Gesicht von Paul, der mir die Blumen mit beiden Händen entgegenstreckte. Er hüpfte nervös von ein Bein auf das andere, bis seine Mutter beruhigend ihre Hand auf seine Schulter legte.

„Danke, Paul!", ich nahm sie ihm ab und roch an ihnen. Dieser Duft war so intensiv und angenehm, dass ich noch Tage danach immer zum Fensterbrett, auf die ich sie gestellt hatte, ging, um noch einmal an ihnen zu schnuppern. Paul wurde rot wie eine Tomate und schob seine Brille wieder auf die Nase.

„Selbst gepflückt heute morgen."

„Komm doch rein."

Er verabschiedete sich noch schnell von seiner Mutter und folgte mir durch den Flur und das Wohnzimmer in unseren Garten. Es war ein herrlich, warmer Tag Ende Mai. Und ich hatte Geburtstag. Papa hatte eine große Decke auf der blühenden Wiese ausgebreitet und frisch gepressten Orangensaft und mein gewünschten „Wir-Feiern-Ostern-Möhrenkuchen" liebevoll angerichtet. Außer Paul waren noch Jan und Nadine da. Nadine eine kleines Mädchen mit orangen Haaren und heller, fast weißer, Haut, die immer und überall ihre Puppe dabei hatte, sowie auch heute. Sie saß fein gekleidet neben ihr auf der Decke und hat ihre kleinen Puppenhände zusammen gefaltet auf den Schoß liegen. Nadine sprach auch in der Schule mehr mit ihrer Puppe als mit mir oder den anderen, aber dennoch hatte ich sie ins Herz geschlossen.

„Guck mal Papa! Hat Paul mir selbst gepflückt", stolz zeigte ich ihm die Blumen und fühlte wie mein Herz höher schlug, als er übertreibend die Augenbrauen hoch zog und anerkennend pfiff. Ich liebte es, dass es Papa heute gut ging.

 „Die sehen toll aus! Soll ich sie vielleicht in eine Vase stellen, damit sie nicht verwelken?", fragte Papa und nahm mir die Blumen ab, als ich zustimmend genickt hatte. Ich nahm Pauls Hand in meine und zusammen hüpften wir zu der Decke und ließen uns nieder. Nadine schaute uns beide mit großen Augen an, bevor ihr ein Lächeln über die Lippen glitt.

„Ist das Paul?"

 „Ja, der super-duper Paul", sagte ich und drückte seine Hand. Nadine musterte ihn weiter von oben bis unten, da sie ihn auch noch nicht in der Schule gesehen hatte. Ebenso wie Jan, der sich aber nicht für ihn zu interessieren schien.

„Können wir den Kuchen anschneiden, kleines Wunder?", so nannte Jan mich seit kurzer Zeit, als er meinen Armstumpf angeschaut und mich beobachtet hatte, wie ich mit alltäglichen Problemen umging. Für ihn war ich ein Wunder und in Gegensatz zu den Anderen akzeptierte und respektierte er mich. Manchmal machte es auch den Anschein, dass er sich vor mir in Acht nahm.

 „Lass mich ihn anschneiden", ich nahm, dass große Messer und fing an den Kuchen in gleich große Stücke zu schneiden, was mir aber überhaupt nicht gelang. Jan lachte und seine Grübchen traten hervor während seine blonden Haare von der Sonne durchflutet wurden. Ich konnte mich kaum an ihm satt sehen. Jeder bekam ein Stück von den selbstgebackenen Kuchen und lachten und schmatzten, bis Papa wieder aus dem Haus kam und die Ostereiersuche begann. Ich hatte mir wirklich ein richtiges Osterfest für meinen Geburtstag gewünscht, weil Mama es mir versaut hatte. Auch jetzt feierte sie nicht mit. Seit Monaten schloss sie sich im Schlafzimmer ein, nur ab und an verließ sie das Zimmer, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu trinken. Dabei sprach sie nicht und sah uns noch nicht einmal an, wie ein Zombie wandelte sie dann durch das Haus, ausdruckslos und mit wild abstehenden Haaren. Ich glaubte felsenfest daran, dass das tote Monster, Florian, Mama mit seinen verwesten Fleisch infiziert und Mama zu etwas gemacht hatte, was ich Abscheulich finden konnte. Ihr Verhalten gab mir plausible Gründe sie hassen zu können.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                    „Hier drüben!", schrie Jan aufgeregt und hopste wie ein Gummiball, „Ich hab's gefunden!"

Nadine rannte so schnell, dass sie fast über ihre eigene Füße gestolpert wäre. Erstaunt blickte sie auf den kleinen Korb, der mit bunten Eiern und Schokolade überfüllt war. Großzügig bot Jan ihr etwas von seinen Gefunden an.

„Darf Hanni auch?", fragte Nadine schüchtern und glättete das seidige Haar ihrer Puppe. Jan nickte und gab den beiden jeweils ein Stück Schokolade.

 „Weißt du, dass der Himmel eigentlich grün ist?", Paul war neben mir erschienen und war so nah, dass ich sein eigenen Körpergeruch viel intensiver war nahm, als die Male davor. Lavendel und Koriander.

„Mein Papi hat es mir gestern erzählt, und ich glaube ihn", sagte er stolz und seine Mundwinkel verzierten sein ganzes Gesicht. Ich stimmte nicht zu, weder bewies ich ihn, dass er in unrecht war. Wenn ich darüber nachdachte, muss ich mir eingestehen, dass es mich nicht aufregte. Es warokay. Ich habe einfach eine neu gewonnenen Verständnis, dass andere Menschen durchaus den Himmel als grün betrachteten. Ich war vollkommen damit einverstanden.

„Okay", ich lächelte Paul an, „Lass uns weiter suchen."

 Ich zog Paul mit und sein verdutztes Gesicht, dass ich gar nicht auf sein „Der-Himmel-ist-grün" Satz einging, verwandelte sich bald in eine voller Freude strahlende Sonne. Wir tanzten über die Wiese und glucksten und kicherten. Meine persönliche Sonne strahlte immer heller. Wir drehten uns im Kreis und je schneller wir uns drehten, desto mehr verschwamm alles um mich herum: das Haus, Nadine und Jan, die uns beide beobachteten, der blaue Himmel, und sogar Papa. Das einzige klare und grelle was ich sehen konnte war Paul. In diesen Moment füllte Paul mein Leben aus.

Unsere Energie ließ langsam nach und Paul legte sich auf die Wiese und fing an ein Schneeengel zu machen, nur das der Schnee fehlte.

„Du kannst kein Schneeengel in Frühling machen", sagte ich vorwurfsvoll.

„Doch natürlich, das siehst du doch!", Paul hatte seine Augen geschlossen, „Probiere es mal, es ist viel wärmer, als wenn du es ihm Schnee machst."

Ich legte mich neben ihm, ohne daran zu denken, dass mein Kleid Grasflecken bekommen wird, die beim Waschen nicht mehr rausgehen würden. Erst später fiel es mir auf, doch ärgern konnte ich mich nicht darüber, dafür war die Erinnerung mit Paul auf der Wiese einfach zu intensiv und zu schön gewesen. Wir machten zusammen Schneeengel, bis Paul starr liegen blieb und sein Atem anhielt. Ich schaute ihn von der Seite an.

„Was tust du da, Paul?"

„Ich bin tot."

 Einfach so. Als Kind konnte man sich ins Gras legen und sagen, dass man tot war. Heute brauchte man Gründe dafür; am besten plausible.

„Ich mag mein Geburtstag", flüsterte ich und blickte ein Schwarm Vögel hinterher, die über mich hinweg flogen.

„Ich auch", Paul rutschte näher zu mir.

„Du bist großartig mein Engel!", wisperte er mir ins Ohr.


'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt