1990

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Es war mein erster Kindergartentag in der neuen Stadt, seit wir vor zwei Monaten hier her gezogen waren und immer noch, 10 Jahre danach, hier feststeckten. Dad hatte seinen Job verloren und einen neuen gefunden, als einen Art Mechaniker in einer Firma, die neuen Maschinen herstellten und auf Messen vorstellten. Ihm machte es Spaß, er hatte schnell neue Kumpels kennen gelernt (die meisten Mitte 40, kaum Haare auf dem Kopf und in der einen Hand eine Zigarette und in der anderen eine billige Bierflasche) mit denen er sich häufiger, mindestens zweimal oder in manchen Wochen, wenn es denn zeitlich klappte, dreimal, traf. Sie redeten dann über ihre Jobs, Frauen und ihr Sexleben, das nicht mehr oder ernüchternd stattfand. Dad konnte aber nur bemerklich mit reden, Melanie war die Frau, also meine Mutter, die er sich immer erträumt hatte. Lustig, Kokett, in manchen Momenten schüchtern, aber ansonsten offen und herzig, groß, schlank, dunkelblondes Haar und haselnussbraune Augen. Ihr Sexleben hatte nach meiner Geburt nichts einbüßen müssen. Sie liebten sich oft und ich hatte sie schon einige Male dabei gesehen, mir aber mit fünf nichts dabei gedacht. Wir waren eine perfekte Familie.     

Meine Mutter hatte mich in den Kindergarten gebracht und mir versprochen nur noch ein Jahr hingehen zu müssen, bevor ich in die Schule komme. Es ist komisch wie man sich gefreut hat endlich eingeschult zu werden, bis man mit gekriegt hat, dass es nicht so ist wie du es dir vorgestellt hat. Alleine die Kinder werden schrecklicher und beurteilen sich gegenseitig nach dem Aussehen, und von den Lehrern möchte man gar nicht erst sprechen. Sie hatten von Anfang an Angst vor mir. Nicht so Isabell. Sie war die Erzieherin die mir den Kindergarten gezeigt hatte und mich den anderen Kindern vorgestellt hatte. An sich war der Kindergarten nicht groß und nur um die 30 Kinder und Babys waren dort angemeldet, aber er war sehr lieb und mit vielen kleinen Details eingerichtet. Mir gefiel es dort sofort.                                                                                                                  

 Meine Mutter hatte sich verabschiedetet und ich stand alleine mit Isabell in dem Vorraum wo man Schuhe und Jacke auszog und an seinen Hacken hing. Jeder hatte seinen eigenen. Auch ich hatte schon einen bekommen und mein Name war fein säuberlich geschrieben und angeklebt worden. Marie.            

Isabell ging vor mir in die Hocke und zog meine blaue mit Sternchen verzierte Jacke aus. Ich schaute sie mit großen braunen Augen an und meine hellblonden Locken standen überall wild von Kopf ab. Sie waren Kinn lang, wenn man sie gerade zog. Niemals länger. Isabell lächelte mich warmherzig an und ihre grünen Augen leuchteten wie zwei Smaragde. Sie zogen mich in ihren Bann, sodass ich sie anstarren musste. „Freust du dich schon auf deinen ersten Tag, Marie?“, Isabell setzte mich auf eine Bank um mir die Schuhe auszuziehen. „Du wirst viele neue Kinder kennen lernen und…“, erschrocken weiten sich ihre Augen, aber nur für eine Millisekunde bis sie mich wieder warm anschaut. Ich hatte mich an ihren Schulterlangen Haaren festgekrallt, als sie das Wort Kinder gesagt hatte. Ich mochte andere Kinder nicht, weil sie mich nicht mochten. Ich assoziiere das Wort Kindern mit etwas Furchtbarem. „Hab keine Angst sie werden dich schon mögen“, sie nickte mir aufmunternd zu und nahm meine linke Hand. Zusammen gingen wir in den großen Spielraum, wo Kinder umher rannten, manche sie um ein Spielzeug stritten und andere wieder rum sich gegenseitig an den Haaren zogen. Begleitet mit lauten Lärm und Gekreische. Ich schaute hoch zu Isabell mit einen glücklichen Grinsen im Gesicht und machte mich von ihr los. Diese positive Energie steckte mich irgendwie an.                                                             

 Ich lernte Paul kennen. Er war klein, hatte eine schwarze runde „Harry Potter“ Brille an und war der erste und auch einzige, der wirklich mit mir spielte und den Anschein machte als würde er mich mögen. Die nächsten Tage vergingen wie in Flug, es machte mir Spaß in den Kindergarten zu gehen und es machte mich ebenfalls glücklich, dass Mutter und Vater glücklich waren.                                 

 In Pauls Nähe fühlte ich mich einfach gut und konnte ich selbst sein. Dagegen gab es genug andere Kinder die Angst vor mir hatten, manche weinten wenn sie mich sahen und klammerten sich an der fetten, anderen Erzieherin Annie fest, andere wiederum, dazu gehörte auch Dennis, ärgerten mich und zogen an meinen Haaren oder nahmen mir Spielzeug weg. Doch das war okay. Isabell kümmerte sich darum.                                                                                                          

Es war an einem Freitagnachmittag, viele Kinder wurden schon von ihren Eltern abgeholt, aber Paul war noch da, genauso wie Dennis. Ich saß mit Paul an einen runden Tisch, der bunt angemalt wurde, sodass man nicht mehr genau erkennen konnte welche ursprüngliche Farbe der Tisch wirklich hatte, und wir zeichneten und lachten. Bis Dennis von hinten an mich heran trat, mein Bild in seine Pranken nahm und es zerriss. Er sprang durch den Raum und ließ Papierschnipsel regnen, es war mein Bild was dort hinab zum Boden segelte und sich im ganzen Raum verteilte. Ich schaute mich um, stellte fest dass wir die einzigen waren, keine Isabell und keine fette Annie, und stürzte mich auf Dennis. Erschrocken fiepte er und sog scharf die Luft ein, als ich ihn zu Boden drückte. Ich kratze ihn mit meiner Hand im Gesicht, mit solcher Kraft, das blutenden Striemen zurück blieben. Isabell kam gerade rechtzeitig um mich von Dennis los zu zerren, bevor ich ihm etwas Schlimmeres angetan hätte. Für eine fünf Jährige hatte ich schon eine enorme Kraft.                                                                             

Dennis wurde abgeholt, weinte wie ein Schlosshund und streckte mir noch die Zunge raus, bevor seine Mutter in auf dem Arm mit nach draußen nahm. Ihr armer kleiner Dennis.                                

Ich wartete auch auf meine Mutter und als sie endlich kam, musste sie erst einmal mit Isabell sprechen. Solange wartete ich im Vorraum und zog Jacke und Schuhe an, so gut es eben alleine ging. Ich hörte ein vertrautes Geräusch und drehte mich zu Paul um. Schüchtern hielt er mir ein Blatt hin, was ich mit Aufregung entgegen nahm. Ich drehte es um und erblickte mich und Paul. Die Zeichnung war nicht gerade gut, aber er hatte uns gut hinbekommen. Wir hielten uns an der Hand. Bei mir war es natürlich die linke, denn die Rechte habe ich ja nicht. Um genau zu sein, besaß ich noch nicht einmal einen rechten Arm. Paul hatte uns wirklich gut hingekriegt. „Warum hast du nur einen Arm?“, fragte Paul und seine Augen weiteten sich, als ich ihm auf die Frage antwortete. „Weil ich Gottes Engel bin, und Gottes Engel haben nur einen Arm. Wir brauchen keine zwei“, das war das was mein Vater mir immer erzählt hatte. Gottes Engel.                                                                                        

Ich verließ den Kindergarten ohne an der Hand meiner Mutter zu laufen, dafür aber mit Pauls Bild.

'Bin Ich hübsch, Mama?'Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt