Kapitel 4

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Im Gang traf sie auf die Professorin vom Morgen. Sie stand am anderen Ende und beobachtete mit ihrem Adlerblick die Schüler, die allesamt winzig wirkten neben ihr. Ihre Flügel schimmerten gepflegt und waren auf dem Rücken zusammengelegt. Bei ihrem Anblick fiel Lucinda wieder ein, dass sie sich ja nochmals melden sollte, weil sie die misslungene Mission angeben musste. Aber als sie die Professorin nun auf dem Gang sah, blieb sie wie festgenagelt stehen. Was, wenn sie fragte, warum es schief gelaufen war? Zwar hatte sie das am Morgen nicht, aber das konnte noch kommen. Der Gang war voller Schüler und die Professorin hatte Lucinda am anderen Ende noch nicht gesehen. Vielleicht konnte Lucinda fliehen und die Befragung umgehen. Vielleicht hatte sie die Professorin vergessen, schliesslich gab es hunderte Schüler und bestimmt gingen mehrere Missionen in der Woche schief. Jetzt, da Lucinda einen Plan für das Medaillon hatte, wollte sie auf keinen Fall riskieren, dass zu viele Leute davon erfuhren. Anderseits brauchte sie eine Ausrede, warum sie die Mission nicht erfüllen konnte, ohne dabei das Medaillon zu erwähnen. Eine Gruppe Jungs drängten sich an ihr vorbei und Lucinda wurde ein paar Meter nach vorne geschoben.

„He", protestierte sie, aber die Jungs gingen unbeirrt weiter, ohne sie zu beachten. Doch nun sah die Professorin zu ihnen herüber. Toll, echt. Lucindas Herz blieb stehen, als sie ihr in die grauen Augen blickte und sie merkte, dass die Professorin sie erkannte. Langsam ging die hochgewachsene Frau auf sie zu und Lucinda stand dort, unfähig, sich zu rühren. Mist! Ihre Beine schienen Wurzeln geschlagen zu haben und ihr Mund wurde trocken. Sie war schlecht im Lügen, erst recht, wenn sie kein Alibi hatte. Was sollte sie nur tun?

„Wie heisst du?", fragte die Professorin, die sich erstaunlich schnell einen Weg durch die Schüler gebahnt hatte. Wahrscheinlich hatten diese ihr Platz gemacht, denn sie hatte einen respekteinflössenden Gang.

„Lucinda." Zum Glück stammelte sie nicht vor Angst.

„Gut, Lucinda. Du konntest deine Mission nicht erledigen?"

Lucinda nickte und unterdrückte ein Zittern in ihren Knien.

„Wo ist das Opfer jetzt?"

Lucinda runzelte kurz die Stirn, bis sie verstand, was sie damit meinte. „Soweit ich weiss immer noch am selben Ort."

Die Professorin nickte, ihre Miene zeigte keinerlei Regung. „Dann wirst du die Mission heute Abend wiederholen." Sie beugte sich vor und Lucinda roch den Kaffeegestank aus ihrem Mund. „Und zwar ohne zu versagen." Dann richtete sie sich wieder auf und Lucinda schnappte nach Luft wie ein Fisch. Hastig nickte sie und versuchte ein Lächeln.

„Das werde ich, Ma'am", beeilte sie sich zu sagen und wollte sich schnell umdrehen, um zu gehen. Sie spürte die Blicke der anderen Schüler auf ihr, aber sie wagte es nicht, jemand anderen anzusehen als die Wand.

„Warte, Lucinda", hielt die Professorin sie auf, als sie sich halb von ihr abgewandt hatte.

Mit klopfendem Herzen blieb Lucinda stehen.

„Wie ist die Nummer deiner Akte? Ich muss die Mission dennoch eintragen."

Lucinda atmete erleichtert aus. „73530", erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. Die Nummern merkte sie sich immer als erstes, wenn sie eine neue Akte bekam.

Die Professorin nickte und ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand in der Menge. Lucinda schnaubte überrascht. Jetzt hatte die Frau es geschafft, Lucinda stehen zu lassen, obwohl eigentlich Lucinda sie hatte stehen lassen wollen.

„Viel Glück, Lu", sagte Tim und umarmte sie kumpelhaft.

Es war später Nachmittag und Lucinda war auf dem Weg zu den Medaillons, um ihr Glück zu versuchen. In ihrer Aufregung war sie ziellos in der Akademie herumgeirrt und dabei nochmals Tim in die Arme gelaufen, der ihr den Weg zu den Medaillons erklärt hatte – wo auch immer er die Information her gehabt hatte.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt