Kapitel 11

53 10 7
                                    

Lizzie hatte es gut gemeint mit ihr. Die Wohnung war riesig und alle Seiten waren verglast, sodass die bodenlangen Fenster einen grandiosen Ausblick auf die Stadt boten. Lucinda stand in einem grossen Wohnzimmer mit Sofa und einem dunklen Teppich, alles wunderbar gepflegt. Augenblicklich schloss Lucinda die Tür hinter sich, dann stellte sie den Koffer ab und eilte in die anderen Zimmer. Auf den Schränken und Ablagen lag Staub, was darauf hinwies, dass schon lange niemand mehr hier gewohnt hatte – selbst das Bett war verstaubt. Neben dem Wohnzimmer hatte es ein Schlafzimmer, eine Küche, ein Bad und ein weiteres Zimmer, das der Besitzer als Bibliothek eingerichtet hatte. Zwar konnte Lucinda mit Büchern nicht viel anfangen, aber Lizzie würde Freude daran haben. Gerne wäre sie staunend durch die Wohnung gegangen, deren Räume allesamt grösser und schöner waren, als Lucinda es von der Akademie kannte, aber im Lesezimmer musste sie wieder an Lizzie denken und an ihr Versprechen, schnell wieder bei dem Mädchen zu sein. Hektisch suchte sie beim Eingang einen Schlüssel und lächelte, als sie unter dem Teppich einen fand. Die meisten Häuser, in die Lucinda bisher eingebrochen war, hatten einen Schlüssel irgendwo versteckt, für den Fall, dass man einen verlor oder verlegte. Erfreut probierte sie ihn aus, steckte ihn dann ein und sprang vom Balkon, deren Tür sie von aussen wieder zuschob. Sobald sie im freien Fall war, schlug sie die Flügel auf und begann zu fliegen, in Richtung Lizzie.

Dabei sah sie die Gestalten nicht, die sie von der Strasse aus beobachteten, denn ihre Gedanken galten ausschliesslich dem kleinen Mädchen.

-

Sie hatte nicht erwartet, dass plötzlich so viel passierte. Sie hatte ihre zweite Nacht in der Wohnung verbracht und nachdem sie ein Buch mit dem Einkommen des Herrn gefunden hatte, schwand ihr schlechtes Gewissen während dem Duschen und Kochen allmählich. Sie hatte bereits eine Mail an den Medikamentenliferanten geschrieben und wartete nun auf eine Antwort.

Lizzie war noch nicht auf Besuch gekommen, aber sie hatten miteinander ausgemacht, dass sie einfach abends mal vorbeikommen sollte oder Lucinda schlichtweg anrufen.

Jetzt aber war es später Morgen und Lucinda war in der Stadt, auf der Suche nach einem Job. Es war Samstag und viele Leute waren unterwegs, einige machten Einkäufe, andere verbrachten den Tag mit ihrer Familien im Freien. Tatsächlich war es schönes Wetter und am Morgen, als Lucinda in der grosszügigen Wohnung aufgewacht war, hatte die Sonne durch die bodenlangen Fenster geschienen und die Wohnung in ein goldenes Licht getaucht.

Nun schien die Sonne bereits von oben und Lucinda sah sich auf der Strasse um, nicht auf der Suche nach der neuesten Mode, sondern nach einem Jobangebot. Manchmal waren sie aussen an den Läden angeheftet, manchmal ging Lucinda auch einfach rein.

Gerade bog sie um eine Ecke, als sie wieder einen halben Schritt zurückging und zu dem Laden an der Kreuzung sah. Wobei Laden der falsche Ausdruck wäre. Es war ein Bücherladen und jemand hatte mit weisser Farbe Engelsschwingen auf die Türe gemalt. Solche, wie Sotíras sie hatten. Erstaunt klappte Lucinda den Mund auf. Was war das? Würde sie dort einen Job bekommen können? Sie näherte sich neugierig dem Bücherladen, als plötzlich eine Hand nach ihr griff, sie grob an der Schulter packte und sie in eine Seitengasse gleich daneben zog. Lucinda schrie auf, schlug um sich und traf ihren Angreifer, der sie darauf losliess. Entrüstet drehte sie sich um und fand sich einem Mann gegenüber, der gerade erneut ausholte. Geschickt duckte sich Lucinda unter seinem Schlag weg und boxte ihm stattdessen in den Bauch.

„Was soll das?", fauchte Lucinda ihn an, doch er schien es nicht zu hören, denn er ging weiter auf sie los. So ein Mist aber auch, dass Lucinda ihr Schwert nicht dabei hatte!

Für eine Jobsuche machte es keinen guten Eindruck, wenn man bewaffnet kam, aber der Mann hier schien gefährlich zu sein. Er kickte kräftig nach Lucinda, aber diese sprang über seinen Fuss hinweg und warf sich auf ihn. Er packte sie, kickte in ihre Hüfte, währendem sie ihn gegen die Wand hinter ihn warf. Er drehte sich in letzter Sekunde um, packte Lucinda fester und schmetterte sie mit aller Kraft gegen die Wand. Lucinda knallte unsanft gegen die Hauswand und ihre Schulter begann zu schmerzen. Der Mann aber hielt nicht inne, sondern schlug sofort auf Lucinda ein. Stöhnend liess sie sich fallen, um seiner Faust zu entkommen und kickte stattdessen in seine Kniekehlen. Er zuckte kurz zusammen, lange genug, dass Lucinda sich wieder aufrichten konnte, aber es war ihr unmöglich, hier die Flügel auszubreiten. Im nächsten Moment erwartete sie schon seinen nächsten Angriff und seine Faust traf sie ihm Gesicht. Sie boxte nach ihm, doch er wurde immer beweglicher, wich aus und drängte Lucinda seinerseits an die Wand. Sie presste sich ängstlich an die Mauer. Noch nie hatte sie ohne Schwert gekämpft. Ihre Fäuste trafen ihn nicht mehr, aber ihre Arme hatten schon etliche blaue Flecken und bald würde das Gesicht drankommen.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt