Lucinda liess warmes Wasser auf ihren Körper prasseln und ging dabei die Geschehnisse des Tages durch. Sie befestigte die Dusche an der Wand und genoss das Gefühl, es sich für einen kurzen Moment gut gehen zu lassen. Der harte Strahl besänftigte die Zerrung an ihrer Schulter und Dampf stieg im Badezimmer auf. Es war seltsam, was heute alles passiert war. Der erneute und überraschende Angriff gab ihr zu denken, ebenso jedoch der Zettel, den sie noch kurz angeschaut hatte vor dem Duschen. Dieser und ihr Handy lag nun auf einem Stuhl im Badezimmer. Nach der Aktion mit Matthew waren sie beide nach Hause gegangen, Matthew würde am Abend mit Lizzie kommen, um Weiteres zu besprechen. Der Zettel war keine Quittung gewesen, sondern ein Einkaufszettel. Jedoch war es nicht einfach ein normales Post-It, sondern ein Papier mit Aufdruck. Der Aufdruck einer Marke, um genau zu sein. Lucinda hatte es nur kurz angeschaut, da sie es sowieso noch mit Lizzie und Matt besprechen wollte, aber sie wusste jetzt schon, dass der Zettel essenziell sein würde. Doch auch der Kuss und seine abweisende Reaktion spukten Lucinda im Kopf herum. Gut, Matthew war meistens ruhig und, wie sie ihm ja vorgeworfen hatte, verklemmt, aber sein Verhalten kränkte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ein Junge je so reagiert hatte, nachdem sie ihn geküsst hatte. Auch wenn es normalerweise andere Umstände waren. Doch warum hatte Matthew ihr kaum in die Augen schauen können? Er hatte den Kuss ja erwidert. Er hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Oder war das alles nur fake gewesen? Hatte er sofort realisiert, dass es Tarnung war und deshalb zurückgeküsst? Lucindas Gedanken wären noch weiter gegangen, wenn nicht abrupt ihr Handy geklingelt hätte und sie unterbrochen hätte. So schnell war also ihre ruhige Zeit in der Dusche vorbei, dachte sie sich, als sie mit einem Seufzen die Dusche abstellte und hinauskletterte. Mit noch nassen Händen nahm sie ab, sie sah auf dem Display Lizzies Nummer.
„Hallo?", sagte sie. „Alles okay?"
„Hey, Lu", erwiderte Lizzies muntere Stimme. Ihr schien es gut zu gehen. „Ich bin wieder zu Hause, Matthew hat mich abgeholt."
Lucinda nickte erleichtert, aber Lizzie liess ihr keine Zeit zu antworten.
„Ich soll dir sagen, dass wir bald kommen", meinte sie noch.
Lucinda runzelte die Stirn. „Okay. Ja. Also seid ihr auf dem Weg?" Sie hatten erst in einer Stunde abgemacht.
Lizzie zögerte. „So halb." Dann senkte sie die Stimme und Lucinda ahnte, dass es einen anderen Grund gab für ihren Anruf. „Matt hat sich seltsam verhalten. Ich hab aus ihm herausgepresst, dass du ihn geküsst hast", flüsterte sie und Lucinda konnte sie beinahe grinsen hören.
Nicht wissend, was sie sagen sollte, machte sie: „Mhm..." Sie merkte, dass sie errötete und sie verkniff sich ein Lächeln. „Er hat sich in der Tat seltsam verhalten", sagte sie dann, damit Lizzie ihr Schweigen nicht falsch interpretierte.
„Küsst du denn nicht gut?", fragte sie offen.
Lucinda lachte laut. „Das musst du ihn fragen."
Lizzie seufzte hörbar. „Meinst du etwa, er redet über das?"
„Meinst du etwa, ich weiss, wie ich küsse, Kleine?", konterte Lucinda und verdrehte belustigt die Augen. „Aber hat er sonst noch irgendwas gesagt?", wollte sie dann zögernd wissen. Vielleicht hatte er ihr ja etwas darüber erzählt, als was er den Kuss empfunden hatte. Zwar wusste Lucinda selbst nicht, wo sie es einstufen sollte, aber sie wollte mehr darüber herausfinden, was Matt dachte. Und Lizzie konnte wohl am besten beantworten, ob es Matt nicht gefallen hatte und er deshalb so seltsam reagiert hatte.
Lizzie aber gab keine brauchbare Antwort. Stattdessen war sie einen Moment lang ruhig, dann gab sie ein langgezogenes „Uuuuh" von sich und lachte dann. „Wieso interessiert dich das denn?", fragte sie unschuldig, aber Lucinda wusste, dass sie bis hinter beide Ohren grinste. So ein Mist. „Ich dachte, du magst ihn nicht, hm?"
Lucinda seufzte und entspannte ihr Gesicht, um das nervende Lächeln loszuwerden, das sich eingenistet hatte. „Nichts gegen deinen Bruder, aber er ist tatsächlich extrem nervig", sagte sie dann wahrheitsgetreu. „Und ich ‚mag' ihn nicht, Kleine, aber wir sind Partner. Und es würde mich interessieren, als was er den Kuss empfunden hatte." War das jetzt zu theoretisch für ein junges Mädchen? Noch dazu die Schwester des Betroffenen?
„Du magst ihn nicht oder du magst ihn nicht?", meinte Lizzie zweideutig und Lucinda fühlte sich wieder einmal, als sei das Mädchen gleich alt wie sie.
„Lizzie, du bist auch nervig", meckerte sie, in Mangel an einer besseren Antwort.
Lizzie liess sich wieder einen Moment Zeit, dann kreischte sie ins Handy, ein fröhlicher Ton, der in ein Lachen überging. „Ich wusste es!", jubelte sie und Lucinda hielt sich das Handy vom Ohr weg. Langsam fror sie in der Dusche. „Du magst ihn!"
Lucinda runzelte die Stirn. Sie hatte doch eben gesagt, dass sie ihn nicht mag! Aber es war wohl sinnlos, das Lizzie beizubringen. Stattdessen angelte sie sich mit ihrer verletzten Schulter ein Tuch und sagte ins Handy: „Lizzie, hör mal, wenn ihr eh bald kommt, können wir ja dann reden. Ich bin in der Dusche und würde mich gern anziehen."
Lizzie hörte abrupt auf zu Kreischen. „Oder wir müssten jetzt ganz schnell kommen und Matt revanchiert sich", schlug sie ernst vor und machte eine Pause. „Ich verarsch dich nur, zieh dich schnell an, wir kommen."
Lizzie hatte aufgelegt, noch bevor Lucinda mit ihr schimpfen konnte. Die Kleine war echt gerissen. Und eigensinnig. Kopfschüttelnd sperrte sie das Handy. Nein, auch Lizzie war nicht leicht zu verstehen. Aber im Gegensatz zu ihrem Bruder redete sie viel, wenn nicht gar zu viel, und verschlossen war sie überhaupt nicht. Ausser, das Thema kam auf den Mörder. Mit dem Gedanken plötzlich wieder bei den wichtigen und lebensbedrohlichen Dingen, schnappte sich Lucinda den Zettel und hastete in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Wenn Lizzie und Matthew kamen, wollte sie keine Revanche, sondern erfolgreiches Planen. Bald war es Zeit für Stadium 2, das interne Handeln. Und da sie in der kleinen Gruppe eine führende Kraft war, musste sie auch als solch eine agieren. Und dazu gehörte, dass man bereit – und angezogen – an den Treffen erscheint.
***
Tut mir leid, dass da nicht sonderlich viel passiert.
Dennoch freue ich mich über Feedback oder andere Interaktionen. :)
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Engelsschwingen - Ausgestossen
خارق للطبيعةLucinda hat Flügel, aber sie ist kein Engel. Vielmehr hat sie die Aufgabe, Menschen aus ihrem Leidwesen zu erlösen - die Seele des Menschen entscheidet, ob sie leben oder sterben werden. In der Akademie der Erlöser werden neben ihr noch massenhaf...