Prolog

354 29 29
                                    



Nur deine Seele entscheidet,
ob du leben
oder sterben wirst.

Die Sonne ging unter, als Lucinda ihre kräftigen Flügel ausbreitete.

Sie hatte eine neue Mission zu erledigen und diese Tageszeit liebte sie am meisten dazu. Sie beugte leicht die Knie, spannte ihre Arme und Beine an und im nächsten Moment begannen ihre Flügel zu schlagen. Lucinda hob ab und flog dem Horizont entgegen. Der kühle Fahrtwind peitschte ihr die langen Haare aus dem Gesicht, sodass diese auf ihrem Rücken wie ein Schleier hinter ihr her wehten. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Landschaft unter ihr, die Akademie der Erlöser hatte sie hinter sich gelassen und vor ihr erstreckte sich eine weite Grasfläche, auf der nur vereinzelt Bäume wuchsen. Sie hörte das Rauschen ihrer Flügel in der Luft und der Wind, der an ihr zerrte. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten die Spitzen der wenigen Bäume und manchmal flog Lucinda in einen roten Strahl hinein, der ihre Haare golden leuchten liessen. Als sie über den Fluss flog, der sich durch die Wiese in die Stadt schlängelte, meinte sie fast, das Fliessen bis in ihre Höhe zu hören. Sie schlug kräftiger mit den Flügeln und presste die Arme an ihren Körper, damit sie schneller vorankam.

Nach etwa fünf Minuten erspähte sie den Wald vor ihr, der ihr zeigte, dass sie bald bei der Stadt angekommen war, denn danach erhoben sich die ersten Häuser. Über dem kleinen Wald, der die Wiese wie eine Mauer von der Stadt abtrennte, flog Lucinda am liebsten. Sie mochte die grüne Vegetation unter ihr und das Gefühl, grösser zu sein als die Bäume. Sie liebte es, wenn sie ein Tier erkennen konnte und sie sich als einen Teil der Natur fühlte - frei. Aber der Moment war immer viel zu schnell vorüber und bald schon erreichte sie die Stadt. Die Dächer der Häuser waren unübersehbar und die vielen Hochhäuser stachen markant hervor. Hier am Rand der Stadt allerdings waren überwiegend Wohnhäuser zu sehen.

Das Haus ihres ‚Opfers' war am Stadtrand und leicht zu finden, deshalb beschloss Lucinda, dass sie den Rest des Weges zu Fuss fortsetzen würde. Sie landete auf einer kleinen freien Fläche dicht am Wald und legte ihre Flügel auf dem Rücken zusammen. Von vorne erkennt man jetzt nicht mehr auf den ersten Blick, dass sie eine Sotíra war – ein menschliches Wesen mit Flügeln. Es war nicht so, dass die Fussmenschen die Flügelwesen nicht kannten, aber Lucinda konnte gerne auf die bewundernden oder interessierten Blicke verzichten, die sich nicht vermeiden liessen. Vor allem kleine Kinder fanden einen grossen Gefallen an ihren Flügeln. Zügig setzte sich Lucinda in Bewegung und hielt dabei Ausschau nach dem gesuchten Haus. Die Sonne war nun ganz untergegangen und nur noch die Strassenlaternen erhellten den Weg fleckenartig, aber Lucinda war es gewohnt, dass sie im Dunkeln arbeitete. Meistens war man unauffälliger, wenn man nachts operierte als tagsüber. Die Menschen waren zu Hause und achteten sich nicht gross auf die Umgebung, Leute mit kleinen Kindern brachten diese ins Bett und die Läden waren zu. Sie würde auf weniger Publikum treffen und sie mied es stets, Zuschauer zu haben, denn diese würden sich sehr wohl an sie erinnern – im Gegensatz zu den Opfern. Und von den Flügeln mal abgesehen war es noch seltsamer, wenn plötzlich grünes Licht aufstob und die ganze Erlösung stattfand...

Endlich entdeckte Lucinda das Haus, dass ihr von ihrer Akte her bekannt vorkam. Es war ein Einfamilienhaus und hatte einen Schornstein, das Dach war mit roten Ziegelsteinen bedeckt und die Hauswände waren in einem zarten beige gestrichen. Es sah durch und durch gepflegt aus, aber mittlerweile wusste Lucinda, dass nicht alles so war, wie es aussah. Denn der Mann, der hier wohnte, hatte schon seit zehn Jahren ein Alkoholproblem und war in den letzten beiden Jahren in Drogen abgerutscht. Zuerst Kokain, dann Heroin und die nun dreizehn und fünfzehn Jahre alten Kinder sowie seine Frau hatten immer mehr Probleme mit dem Herrn zu Hause. Lucinda verzog beim Gedanken an den Lebenslauf des Mannes das Gesicht. Es war drastisch, wie schnell sich der Mann verändert hatte – vom liebenden Vater zum Schlägertypen. Mit einem unguten, aber vertrauten Gefühl in der Magengegend näherte sich Lucinda dem Haus. Ihre Augen suchten die Fenster, den kleinen Vorgarten und die Strasse ab. Im Haus war alles dunkel bis auf ein Zimmer und die Strasse war leer. Laut der Akademie war der Mann heute alleine zu Hause und als Lucinda einen Veloständer erblickte, atmete sie erleichtert auf. Von vier möglichen Fahrrädern war nur eines zu sehen. Die Mutter sollte angeblich mit dem dreizehnjährigen Sohn im Kino sein und die Tochter sei ausgegangen – so wurde es Lucinda von der Akademie übermittelt. Zwar konnte sie meistens den Informationen der Akademie trauen, doch in ihrem ersten Jahr der Ausbildung als Erlöserin hatte sie gelernt, dass es stets von Vorteil war, sich selbst nochmals einen Überblick zu verschaffen. Zielstrebig ging Lucinda nun auf das Haus zu und hielt an der Türe an. Kurz drückte sie dagegen, für den seltenen Fall, dass sie offen war, aber wie beinahe immer blieb die Tür zu. Also zog Lucinda zwei stabile Streifen aus dem Hosensack, die als bessere Stricknadeln durchgehen könnten. Geübt stocherte sie damit im Schlüsselloch herum und hörte erleichtert das vertraute Klicken des Schlosses, als sie dieses überlistet hatte. Mit dem Fuss stiess sie die Türe auf und gleichzeitig steckte sie ihre Stricknadeln wieder in den Jeans. So leise wie möglich trat sie ein, schloss die Tür hinter sich und horchte, ob sie Schritte hörte oder eine Bewegung wahrnahm. Aber von aussen hatte sie gesehen, dass nur im obersten Stock Licht brannte und wahrscheinlich war ihr Opfer sowieso betrunken oder high oder beides. Auch jetzt konnte sie keine Geräusche hören. Es war immer ein Zufallsspiel, wie sehr Lucinda bei ihren Missionen sich verstecken musste. Wenn ihre Opfer die Erlösung überlebten – was sie stets hoffte -, gab es kaum einen Grund, nicht einfach zu klingeln. Ausser, dass sie etwas komisch beäugt werden würde und sie keine Zeugen mochte. Aber die Schutzvorkehrungen, dass sie nichts anfasste und alle möglichen Kameras umging, waren bei einem positiven Ausfall nicht nötig. Wenn ihre Opfer es aber nicht überlebte... dann war es am besten, wenn sie keine Spuren hinterliess. Zum Glück stand die Chance bei 3:1 und je nach Alter sogar bei 4:1, dass der zu Erlösende mit dem Leben davonkam, aber Lucinda wollte kein Risiko eingehen. Also schlich sie die Treppen hoch und warf kurz einen Blick in die Zimmer der Kinder. Wie erwartet war alles leer, aber beim Anblick des Schlafzimmers der fünfzehnjährigen Tochter verharrte Lucinda kurz. So könnte auch ihr Zimmer aussehen, mit Schulheften, Postern und grüne Pflanzen. Seit sie vierzehn war, gab es für sie keine Schule mehr, denn die Akademie hatte einem die Möglichkeit gegeben, sich als Erlöser ausbilden zu lassen. Diesen Beruf übte sie nun seit einem Jahr aus, wenn man das Praktikum mitzählte. So hatten andere Dinge in ihrem Leben Vorrang bekommen und ihr eigenes Zimmer sah entsprechend schlicht aus. Allzu lange konnte Lucinda jedoch nicht in Gedanken versunken bleiben, schliesslich hatte sie etwas zu erledigen und mit jeder Minute, die sie verplemperte, stieg das Risiko auf eine unerwartete Überraschung. Also holte sie die Erinnerungen an die Akte der Mission wieder zurück und sie bestieg äusserst vorsichtig die Treppe zum obersten Stock. Sie konnte einen Fernsehen laufen hören, er schaute irgendeine Talkshow. Wie hochstehend.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt