Kapitel 3

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Wie jeden Morgen würde Lucinda heute eine Lesung über das Erlösen besuchen und erst als sie sich auf den Weg in den Hörsaal machte, erlaubte sie sich, wieder an ihr Versagen zu denken. In der Mensa hatte sie sich mit ihrer Freundin Sarah unterhalten, jedoch das Thema Missionen geflissentlich vermieden. Jetzt aber kehrte der Gedanke zurück, denn vor dem Hörsaal lag auf einem Holztisch ein dickes, antikes Buch, in dem man alle Missionen einschreiben sollte. Der einfachheitshalber schrieb man bloss den eigenen Namen, das Datum und die Nummer der Mission auf, nicht noch alle Details zur Person. Am Ende all dieser Zahlen und Daten kam noch ein Plus oder ein Minus, je nachdem, ob der Erlöste es überlebt hatte oder nicht. Und dummerweise waren alle Missionen und die Daten von der Akademie geregelt, was hiess, dass die Professoren bei jeder Person in dem Hörsaal wussten, wo wer auf einer Mission war. Auch über den Fall von gestern wussten die hohen Professoren der Akademie Bescheid. Man musste sich eintragen. Lucinda verlangsamte die Schritte vor dem Eingang und ging einigen Leuten aus dem Weg, mit denen sie normalerweise gesprochen hätte. Jedoch wollte sie gerade keinem erklären müssen, was da geschehen war. Geschah es denn häufig, dass jemand die Mission versaute? Mit bedrückter Miene näherte sie sich den Professoren, die jeweils ihren Adlerblick über die Menge gleiten liessen. Ein vorbeigehender Junge in Lucindas Alter klopfte ihr auf den Rücken.

„Hey, hattest gestern eine Mission, stimmt's?", fragte er munter und grinste, seine Haare waren wild verstrubbelt wie immer. Da Tim dunkles Haar hatte, hatten auch seine Flügel einen dunkleren Ton, vielleicht beige oder eierfarbengelb.

So viel dazu, dass sie Freunden aus dem Weg gehen wollte. Mit einem aufgesetzten Lächeln nickte sie Tim zu. „Genau, ein Serienkiller", bestätigte sie und wackelte mit den Augenbrauen. Es war immer toll, wenn man gefährliche Menschen erlösen konnte, egal, welches Schicksal sie traf.

„Immer eine gute Wahl." Tim grinste. „Hatte ich leider erst einmal."

Lucinda lachte, diesmal echt. „Ist bei mir auch nicht an der Tagesordnung", kommentierte sie und deutete dann mit wachsendem Unbehagen auf das Buch der Erlösungen. „Halt mir einen Platz frei, okay?", bat sie ihn und gab ihm damit zu verstehen, dass er schon einmal vorausgehen sollte. Sie wollte nicht, dass er hörte, wie sie von ihrem missglückten Ausflug berichtete. Mit zitternden Händen ging sie zu der Professorin rechts an der Türe, die sie bloss vom Sehen kannte. Das war schon einmal gut, denn die Professoren, die Lucinda unterrichteten, hatten sie meist nicht als Lieblingsschülerin auserkoren.

Die hochgewachsene Frau schaute zu ihr hinunter. „Wie kann ich dir helfen?"

„Ähm, meine Mission gestern ist... schief gelaufen", presste Lucinda hervor, beschliessend, dass sie nicht lange um den heissen Brei reden wollte.

Die Frau hob die Augenbrauen. „Ist das Opfer entkommen?" Man nannte die zu Erlösenden Opfer, auch wenn das nach einem erlegten Wild klang. Doch die Dame klang eher so, als höre sie diese Worte häufig und ihre Frage klang wie eine Standardreaktion. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

Kleinlaut nickte Lucinda. Es war wohl besser, wenn sie das mit dem Medaillon so lange wie möglich für sich behielt. Vielleicht würde es ihr sogar gelingen, ein neues Medaillon zu bekommen, ohne dass es jemand merkte oder gross nachfragte! Konnte sie eventuell Tim um Hilfe bitten?

„Gut, dann melde dich nach der Lesung nochmal, jetzt haben wir keine Zeit", erklärte die Professorin barsch.

Gerne hätte Lucinda ihr gesagt, dass es doch nett und pflichtbewusst von ihr war, dies sofort zu melden und sie gar nicht so unwirsch antworten solle, doch dann dachte sie an das fehlende Medaillon, kniff die Lippen zusammen und verschwand nickend im Hörsaal.

Lucinda hörte kaum zu, wie der füllige Professor vorne etwas über eine Schwerttechnik erklärte, die man bei grossen oder flinken Opfern anwenden sollte. Stattdessen beugte sie sich zu Tim rüber, der ihr brav einen Platz neben sich reserviert hatte.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt