Kapitel 2

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Die Akademie vor ihr war in hellen Farben gehalten. Zwar waren die Flügelwesen keine Engel, aber dennoch hatten sie ein Faible für Weiss. Es sah aus wie ein Schloss im Mittelalter, nur ohne die angsteinflössenden Rüstungen und Waffen. Zuoberst auf dem Hügel erhob sich das riesige Gebäude und schimmerte im Mondlicht. Die grosse Eingangspforte der Akademie hatte ein schick verziertes Gelände und ein paar wichtige Namen standen in den weissen Stein gemeisselt. Dahinter befand sich ein offener Vorhof, den man durchqueren musste, um ins Gebäude zu kommen.

Links, rechts und gegenüber des Eingangs in die Akademie selbst war je ein hoher Turm zu sehen, der sich bis in den Himmel reckte. Man konnte bis oben hochsteigen, wo es jeweils eine Plattform gab, die früher wohl zu Verteidigungszwecken gebraucht wurde, heute jedoch ein beliebter Ort für Dates war. Von dort aus sah man die Landschaft bis fast zur Stadt und auf der anderen Seite den See. Aber auch ohne die Türme und die gigantische Eingangspforte war die Akademie wahrlich beeindruckend. Keine Wand nach aussen war ohne Verzierungen oder kleine Steinfigürchen gehalten und die Fensterrahmen waren allesamt mit einem hübschen Muster versehen. Auch von innen waren die Räume hoch und gross, die Wege gepflastert und nirgends lag Dreck herum. Es war fast schade, dass Lucinda die Akademie so gut kannte, denn mittlerweile nahm sie die ganze Ausstattung für selbstverständlich.

Besonders als sie heute landete, schenkte sie dem Eingang kaum Beachtung, denn viel mehr interessierte es sie, ob sie hereinkam. Die Akademie war mit Schutzbannen versehen, die es einem unter anderem unmöglich machten, über die Pforte zu fliegen, obwohl der Vorgarten nicht überdacht war. Das hielt ungebetene Gäste ab. Es war schon dunkel geworden, doch es war die übliche Zeit für Erlöser, nun von einer Mission zurückzukehren. Für eine Mission durfte man sogar länger wachbleiben, wenn es nötig war. Lucinda liess sich Zeit, bis zur Pforte zu spazieren, überlegend, wie sie in die Akademie hereinkäme. Sie hatte unglaubliches Glück, dass, kurz nachdem sie mit gemütlichen Schritten bei der Eingangspforte angekommen war und sie verzweifelt nach einer Eintrittsmöglichkeit suchte, ein anderes Mädchen von einer Mission zurückkam. Ohne Medaillon würde sie nämlich die ganze Nacht hier draussen verbringen müssen und der Anblick des Flügelmädchens liess Lucinda erleichtert lächeln. Vage kannte sie die Erlöserin vom Unterricht, wusste ihren Namen aber nicht.

„Hey, machst du grad auf?", fragte sie das Mädchen, das gerade ihre braunen Haare wieder richtete, mit einem unschuldigen Lächeln. Das Mädchen nickte unbekümmert und zog ihr Medaillon über den Kopf, ohne Lucindas Brust zu betrachten. Schliesslich reichte es ja, wenn einer einen Schlüssel hatte. Das Mädchen ging zur Eingangstüre und presste das magische Medaillon gegen das Gitter. Ein grüner Funken stob auf und die Tür ging mit einem Klicken auf.

„Danke." Lucinda versuchte, ihre Erleichterung zu überdecken, damit die Brünette nicht misstrauisch wurde und hinter ihr ging sie durch die Türe in den offenen Vorhof der Akademie. Dort spazierten noch vereinzelt Schüler herum und Lucinda erkannte zwei Professoren, die Aufsicht hielten. Das Übliche Leben in der Akademie, nichts wirkte ungewöhnlich. Mit eingezogenem Kopf mischte sich Lucinda unter ihre Mitschüler und ging brav auf dem Kiesweg auf das Akademiegebäude zu. Normalerweise machte sie die eine und andere Abkürzung über den Rasen, aber weil die Professoren immer wütend wurden, wenn jemand ihre Gartenarbeit zerstörte, liess Lucinda es für heute bleiben. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen und war froh, als sie durch eine weitere protzige Türe in das Gebäude hereinkam, ohne dass sie von den Professoren angesprochen wurde. Dennoch pochte ihr Herz beinahe schmerzhaft in der Brust, denn solange sie nicht in ihrem Zimmer war, war sie noch nicht in Sicherheit. Natürlich war der Frieden trügerisch, denn spätestens morgen würde sie sich eintragen müssen und bekanntgeben, dass der Serienmörder nicht erlöst wurde. Aber zuerst würde sie darüber schlafen und sich eine Lösung ausdenken. Ohne gross auf die beinahe leeren Gänge zu achten, machte sich Lucinda auf den Weg in die Schlafgemächer der Akademie. Jeweils links und rechts im Trakt waren Mädchen- und Jungsschlafzimmer und es war höchst verboten, nachts in ein Zimmer des anderen Geschlechts zu gehen. Da hatte man wohl vergessen, dass es auch homosexuell orientierte Leute in der Akademie gab, dachte sich Lucinda spöttisch und dachte dabei an das Zimmer neben ihr.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt