Kapitel 38

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Als Lucinda Lizzie am Abend zur vereinbarten Zeit zu Matthew nach Hause brachte, glitten ihre Gedanken wieder zu ihm. Ob sie erneut versuchen sollte, mit ihm zu reden? Schliesslich waren sie das letzte Mal unterbrochen worden. Andererseits hatte es nichts so gewirkt, als habe er sich besonders öffnen wollen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie an der Party schaute, wie er auf ihr rotes Kleid reagierte, dachte sie sich belustigt. Aber das wäre gemein.

Die beiden Mädchen kamen bei ihr zu Hause an, bevor Lucinda einen klaren Entschluss fassen konnte. Seufzend gab sie es auf und beschloss, wie schon so oft, einfach intuitiv zu handeln.

Als Lucinda und Lizzie in ihre Wohnung gingen – Lizzie hatte einen Schlüssel – fanden sie Matthew auf dem Balkon am Lesen. Die beiden traten zu ihm raus in die inzwischen dunkler werdende Nacht und er schaute auf.

„Hallo Mädels", grüsste er grinsend und schaute auf ihre Taschen. Scheinbar war es amüsant, die sich die beiden beim Einkaufen vorzustellen. „Seid ihr fündig geworden?"

Lucinda nickte und griff in ihre Tasche, aber Lizzie kam dazwischen. Sie packte Lucindas Hand und sagte: „Ja, aber wir zeigen es dir erst später. Das soll doch eine Überraschung werden." Sie zwinkerte in eine unbestimmte Richtung und fügte dann hinzu: „Und ich versorg das Kleid schonmal. Nochmals vielen Dank, Luce." Sie gab Lucinda eine kurze Umarmung und hüpfte dann zu ihrem Zimmer, ihre Tasche munter in einer Hand schwenkend. Lucinda sah ihr lächelnd hinterher und als sie zu Matt schaute, sah sie, dass auch er zu seiner Schwester sah, auf seinem Gesicht einen liebevollen Ausdruck. Das Mädchen öffnete einfach Herzen, so viel stand fest.

Als Lizzie in ihrem Zimmer verschwunden war, wandte sich Matt Lucinda zu, auf einmal wieder reservierter. „Du zeigst mir das Kleid wirklich nicht?", fragte er nach.

Lucindas Blick wurde finsterer. Konnte er sie nicht ein einziges Mal anschauen, als würde er sich freuen, sie zu sehen? Trotzig setzte sie sich auf einen Stuhl neben ihn und starrte in die untergehende Sonne. „Nein", bestätigte sie. „Da musst du wohl warten." Ausserdem sah sie keinen Grund, warum ihn das interessieren sollte.

„Okay", meinte Matt gleichgültig und schaute kurz in sein Buch, dann wieder auf zu Lucinda. Offenbar wusste er nicht, ob er weiterlesen konnte, ohne allzu unhöflich zu sein.

„Mach nur", knurrte Lucinda in sich hinein. „Ich sitze gerne einfach so auf einem Balkon herum." Langsam wurde es kühler, da die Sonne am Untergehen war. Aber ihre Intuition sagte ihr, dass sie sitzen bleiben sollte, also tat sie das. Missmutig schlang sie die Arme um sich, schlug die Flügel etwas auf, um sich warm zu geben, und schaute in den Nachthimmel.

Als sie hörte, wie Matthew neben ihr tatsächlich wieder weiterlas, ballte sich Wut in ihr auf. Wie konnte jemand so abweisend sein?! Jemand, der so liebevoll zu seiner Schwester war?

Und, vor allem, wie konnte jemand so viele verschieden Gefühle bei ihr aufrufen? Lucinda atmete genervt die Luft aus und rieb sich die Oberarme, um etwas wärmer zu bekommen. „Matthew, ich verstehe nicht, warum du so..." Lucinda brach ab, diesmal klang ihre Stimme wütend und nicht verletzt, aber auf einmal wusste sie nicht, was sie genau sagen sollte. Die Wahrheit war, dass sie nicht wusste, warum er sich ihr gegenüber so gleichgültig verhielt. Und seit wann scheute sich Lucinda davor, die Wahrheit zu sagen?

Matthew schaute jetzt von seinem Buch auf und sah sie abwartend an. „Spuck's nur aus", bemerkte er trocken.

Lucinda warf ihm einen finsteren Blick zu. So eine Frechheit, dachte sie dann, er hatte seinen Pullover ausgezogen und sie nebendran erfror bald. „Warum du dich mir gegenüber so ignorant und abweisend verhältst", ergänzte Lucinda ihren Satz bissig und schaute ihm in die blauen Augen. Seine waren dunkler als ihre und nach ihrem Geschmack auch schöner. „Geht es irgendwie um Lizzie, oder wie?" Im Gegensatz zu ihrem letzten Versuch, mit ihm zu reden, hatte sich nun etwas an ihrer Einstellung geändert. Lucinda wusste jetzt, was sie von ihm wollte. Nämlich antworten. Und endlich fühlte sie sich wieder wie sich selbst; ein Mädchen, das distanzierten Jungs einfach vorlaute Fragen stellte, bis sie aus sich heraus kamen. Und dieses Mädchen hatte im Moment nicht gerade den sanftesten Ton drauf.

Matt schaute sie entsprechend überrascht an und überlegte eine Weile, dann fragte er: „Was war denn eigentlich los damals?" Er hätte wirklich viel fragen können, was sie weniger überrascht hatte als diese Frage. Aber das kam unvorbereitet und Lucinda war auch nicht bereit, das zu beantworten. Ausserdem konnte sie sich das selbst auch nicht erklären.

„Ist doch egal", gab sie aufgekratzt zurück. Auf einmal war ihr der Auftritt von damals peinlich. „Stell keine Gegenfragen." Sie hasste diese Art, Fragen auszuweichen.

Matt hob eine Augenbraue. „Ich dachte, du wolltest vielleicht darüber..." Er brach ab und fuhr sich errötend durch die dunklen Haare.

Lucinda warf ihm einen Blick zu. „Reden?", beendete sie seinen angefangenen Satz spöttisch, obwohl sie innerlich ein klein wenig berührt war. „Dazu bin ich nicht der Typ."

„Ich dachte, du wolltest über mich reden?", fragte er nach.

Lucinda zögerte. „Ja, aber weil wir miteinander arbeiten und uns besser verstehen sollten." Dass sie eigentlich ihre Gefühle ordnen wollte, verschwieg sie an der Stelle.

„Wie kommst du darauf, dass das nicht einfach mein Charakter ist?", fragte Matthew und schaute in den Nachthimmel hoch.

Lucinda lächelte leicht. „Du bist sehr liebevoll mit deiner Schwester. Natürlich ist eine Schwester etwas anderes, aber das beweist dennoch, dass du nett sein kannst und fürsorglich." Sie zog die Beine an und war an der Stelle froh, dass sie heute lange Jeans trug.

Matthew sah sie bei ihren Worten überrascht an und lächelte sogar leicht. Wieder liess er sich Zeit mit der Antwort, er schien sich die Worte zurechtzulegen. „Ich liebe Lizzie wirklich", sagte er dann leise. „Sie ist nicht nur eine Schwester, sondern auch irgendwie unter meiner Obhut. Ich passe auf sie auf."

Egal, wie wütend Lucinda bis vor kurzem noch auf ihn gewesen war, jetzt schmolz ihr Zorn bei diesem Geständnis und sie musste sich zusammenreissen, damit sie nicht entzückt zu lächeln begann. „Das ist wirklich schön Matthew und ich finde es toll, wie gut ihr es zusammen habt", sagte sie und in der Luft hing ein riesiges Aber. Denn ihre eigentliche Frage war er erneut umgangen.

Matthew senkte den Blick. „Ich hasse dich keineswegs", sagte er auf einmal.

***

Ich bin mega gespannt, was ihr über das (beginnende) Gespräch sagt! Bitte ab in die Kommis!

Was erwartet ihr davon? Was denkt ihr darüber? Was denkt ihr von Matt und seinen Hintergründen?

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt