Kapitel 7

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„Ja", bestätigte Soana. „Dein Schwert, deine Kleider und deine Habseligkeiten gehören dir, der Rest bleibt hier. Morgen Nachmittag wird eine andere Schülerin dein Zimmer brauchen."

Beinahe hätte Lucinda mit dem Fuss aufgestampft und sie musste ihrem Mund befehlen, sich wieder zu schliessen. Es war die allergrösste Frechheit, die sie in ihrem Leben je erlebt hatte! Wie konnte sie einfach so abrupt aus der Organisation geworfen werden, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte? Innerlich tobte und schrie Lucinda, aber ausnahmsweise behielt sie die Beherrschung – einigermassen jedenfalls. „Na gut. Ich werde gehen." Unbeabsichtigt klang es so, als wolle Lucinda es so drehen, dass es ihre Idee gewesen war. Aber das war ihr nun auch egal.

„Ich wünsche dir alles Gute, Lucinda", sagte Soana, als würde sie die Situation somit entschärfen oder Pluspunkte in Sympathie gewinnen. Sie setzte sich, faltete gleichzeitig ihre Flügel ein und schlug dann die Beine übereinander. „Du kannst gehen", forderte sie.

Wie in Trance drehte Lucinda sich um. Noch konnte sie nicht glauben, dass sie in vierundzwanzig Stunden an einem anderen Ort übernachten würde und nirgends jemand auf sie wartete. Keine Freunde, keine Eltern, keine Schule, kein Job. Nichts. Nicht einmal Gewohnheiten. Ihre Füsse waren taub, als sie durch den Saal der Unsterblichkeit ging und auf die Türe zusteuerte. Als sie kurz davor stand und die Eingangspforte öffnen wollte, schwangen diese plötzlich von alleine auf. Leicht überrascht verliess Lucinda den Raum der Unsterblichkeit und war froh, dass die Türen offenbar eine Automatik hatten und vorhin nicht jemand unsichtbar dahinter gestanden hatte. Als sich die Türflügel hinter ihr wieder schlossen, atmete sie einmal tief ein und wieder aus, kurz schloss sie die Augen. Sie wollte aufwachen aus diesem schrecklichen Albtraum und den Alltag weiterführen wie bisher. Aber schon bevor sie die Augen wieder öffnete, wusste sie, dass sie hellwach war.

Automatisch entfernte sich Lucinda vom Raum der Unsterblichkeit und Soana, deren Charakter und Rolle ihr ein Rätsel war. Auf dem Weg in ihr Zimmer fiel ihr wieder ein, was sie in der Schule über den Raum der Unsterblichkeit gelernt hatte. Zwar half es ihr nicht weiter, aber indem sie über ihr Wissen nachgrübelte, konnte sie sich von ihrem Schulverweis ablenken.

Es gab einen Grund für den Namen. Wer sich in dem Raum aufhielt, blieb in der Zeit stehen. Er alterte nicht, starb nicht und sein Körper veränderte sich nicht. Eine Krankheit würde innehalten. Die ganze Zeit hielt inne. Da Soana durchaus seit ihrem Beginn der Übernahme über die Akademie gealtert war, nahm Lucinda an, dass sie sich auch ausserhalb des zeitlosen Raumes aufhielt. Doch auch Lucinda war während der Besprechung mit Soana nicht gealtert – was auch nicht gross ins Gewicht fallen würde – und ebenso wenig war es Soana.

Der Saal war verzaubert und das seit Ewigkeiten, so viel stand fest. Und von der Ästhetik der Anführer abgesehen gab es auch einen weiteren Grund. Nämlich wurden dort die Medaillons geweiht. Die Medaillons konnten nur dort geweiht werden und wurden deshalb auch ausschliesslich in und für die Akademie hergestellt, denn nur in einem zeitlosen, unsterblichen Raum konnte man sie so verzaubern, dass sie über Leben und Tod entscheiden konnten. Lucinda fragte sich, was geschehen würde, wenn sie das Medaillon und das Schwert über Soana erheben würde. Aus irgendeinem Grund war sie nicht einmal so wütend auf Soana, wie sie es hätte sein können. Sie war enttäuscht, traurig, verletzt und ja, auch wütend, aber nicht fuchsteufelswild. Dennoch fragte sie sich: Wäre Soana eine zu erlösende Person? Würde das Medaillon grün aufleuchten und ihren kühlen Charakter erlösen? Lucinda bezweifelte es, doch sie würde es nie mit Sicherheit herausfinden. Denn ihr Medaillon war nun für immer verloren. Und genauso ihr Leben als Erlöserin.

Der Abschied fand eher im Verborgenen statt. Lucinda schrieb einen Brief, in dem sie erklärte, was passiert war und dass sie in der Stadt einen Job suchen würde. Sie verabschiedete sich persönlich bei Tim und Sarah, die beide ihr Mitleid äusserten und ihr versprachen, sie würden sie suchen und besuchen gehen. Aber Lucinda und wahrscheinlich auch ihre Freunde wussten, dass das nicht passieren würde. Die Wahrheit war, dass sie zwar alle Bedauern empfanden, aber sie würden sich damit abfinden und einander vergessen. In spätestens ein paar Monaten würde Lucinda eine schöne Erinnerung sein. Lucinda hatte zu wenig tiefe Freundschaften, als dass ihre Freunde wirklich erschüttert sein und im Kontakt mit ihr bleiben würden. Bis zu diesem Moment hatte sie eine so enge Freundin auch nie gewollt. Es hatte ihr gereicht, mit ihnen zu reden, zu lachen, Party zu machen, gegen die Regeln zu verstossen und manchmal über Gefühle oder Jungs zu sprechen. Sie hatte nie das Bedürfnis gehabt, eine Freundin zu haben wie ein Tagebuch und Tag und Nacht mit nur einem Mädchen zu verbringen. Aber jetzt, als sie ihre Sachen packte und sich traurig in ihrem leeren Zimmer umsah, sehnte sie sich nach einer festen Freundschaft. Oder nach Eltern, die sie liebten, egal, wo sie wohnte. Als sie sich die Kette ihrer Eltern um den Hals hängte, merkte sie, dass auch das ein Punkt war, der ihr schmerzte an dem Rausschmiss. Dass ihr das vielleicht am meisten schmerzte. Wenn Kinder von der Schule flogen, erwartete man Eltern, die einen anschreien und Hausarrest gaben. Doch Lucindas Eltern würden sie weder anschreien noch umarmen, vielleicht würden sie es gar nicht wissen. Lucinda hatte niemanden mehr, der sich für sie interessierte.

Weder Freunde noch Familie, Schule oder Verpflichtungen. Kein Ziel. Bloss Geld von ihren Eltern, um sich ein neues Leben zu sichern und einen mittelmässigen Abschluss ohne Praktikum. Mit stumpfen Blick zog sie ihren Koffer aus dem Zimmer und an der einen Schulter hing eine grosse Tasche mit ihren Sachen.

Während sie durch den Gang ging und sich langsam auf den Weg nach unten machte, wo ein Lehrer sie noch verabschieden würde, musste sie sich grosse Mühe geben, nicht zu weinen. Sie brachte es nicht über sich, den Kopf zu heben, bis sie unten an der Treppe war. Dort erblickte sie einen Lehrer, den sie kaum kannte und der ihr jetzt zulächelte. Lucinda verzog die Lippen zu etwas, was ein Lächeln sein sollte. Seiner Miene nach zu urteilen war es ihr misslungen und sie gab es auf, fröhlich wirken zu wollen. Sie überwand die letzten paar Schritte bis zu ihm. Die Türe zum Innenhof war offen und der Lehrer setzte sich in Bewegung, sobald Lucinda bei ihm angekommen war. Ein letztes Mal schaute Lucinda über ihre Schulter in die Akademie. Die Wände und der Boden waren weiss, ein Kronleuchter erleuchtete den Eingang und an der Decke war ein Sotíra zu sehen. Durch die Türe fiel helles Sonnenlicht, das den Rest in einen Schatten tauchte. Bevor Lucinda melancholisch werden konnte, folgte sie dem Lehrer nach draussen und hievte den Koffer die Stufen hinunter.

„Soll ich dir den Koffer nehmen?", fragte der Lehrer mit einem Blick auf ihr Gepäck.

Lucinda runzelte die Stirn und deutete auf die Eingangspforte im Zaun, der um den Innenhof gebaut war. „Für die hundert Schritte? Nein danke, ich muss es nachher auch selbst schleppen", konterte sie missmutig. Der Lehrer hob einen Mundwinkel und den Rest des Weges durch den Hof verbrachten sie schweigend, beide in eigene Gedanken vertieft. Dann waren sie vorne angekommen und der Lehrer öffnete die Pforte, als wolle er sichergehen, dass Lucinda auch wirklich ging.

„Ich wünsche dir alles Gute da draussen, Lucinda", sagte er und reichte ihr die Hand. Als Lucinda ihm die ihre gab, nahm er sie ganz kurz in den Arm und lächelte leicht. Dabei wirkte er für einen Moment so, als könne er tatsächlich verstehen, was dieser Schulverweis für Lucinda bedeutete. „Weisst du, in eineinhalb oder zwei Jahren wärst du sowieso fertig gewesen mit der Akademie", sagte er, was er wohl als Aufmunterung meinte.

Lucinda schenkte ihm wieder ein verkniffenes Lächeln und nickte. Seltsamerweise fiel ihr da ein, dass er Recht hatte. So einen grossen Unterschied machte es gar nicht. Sie hatte ja sogar so etwas wie einen Abschluss, wenn auch keinen guten. Sie würde einen Job finden, wie es einige Sotíras nach der Ausbildung in der Akademie taten. Das war eigentlich ganz normal. Bloss ein wenig früher. Seltsam erleichtert kehrte sie der Akademie der Erlöser den Rücken zu, zog ihr Gepäck durch die Pforte und begann zu laufen, ohne nochmals zurückzuschauen. Sie hörte nur noch, wie der Lehrer das Gitter wieder zuzog und verfluchte sich gleichzeitig dafür, dass sie zuvor im Trotz gesagt hatte, dass sie zu Fuss in die Stadt wollte.

***

Das war das zweite Kapitel auf dem Laptop - etwas kürzer als das erste ^^ ;).

Wie gefällt es euch bis jetzt?

Was haltet ihr von dem Schulverweis und der Wendung damit?

Und wie hättet ihr an Lucindas Stelle reagiert?

Ich freue mich über Kommis, Feedback, Votes und Adds zu den Leselisten :D!

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt