Kapitel 8

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Lucinda schlief die erste Nacht auf einer überdachten Bank, die vor einem Einkaufsladen stand. Sie war nahe am Stadtrand, da Lucinda nach dem mühsamen Marsch durch den Wald nicht mehr lange hatte laufen wollen. Als sie am nächsten Morgen erwachte, taten ihr alle Glieder weh, sie hatte Verspannungen am Hals und ihr Koffer war über Nacht umgekippt. Umständlich rappelte sie sich auf und war froh, dass es immerhin nicht geregnet hatte. Aber als sie einigermassen wach war und sich umsah, merkte sie, dass es schon etwa zehn Uhr sein musste. Da hatte sie wohl lange geschlafen - kein Wunder, wenn sie keinen Wecker hatte und am vorherigen Tag eine lange Strecke hinter sich gelassen hatte.

Um sie herum spazierten Leute auf und ab, hauptsächlich Fussmenschen. Einige Erwachsene hatten einen eiligen Gang und eine gestresste Miene, andere waren lockerer gestimmt. Kinder sah man kaum, die waren wahrscheinlich alle in der Schule. Bloss ein paar Jugendliche waren zu sehen, die an Lucindas Bank vorbeigingen und im Laden hinter ihr verschwanden. Ob sie die Schule schwänzten? Mit dem Blick, dem sie Lucinda zuwarfen, fühlte sie sich wie eine Ausgestossene, als wäre sie von zu Hause abgehauen und wusste nicht, wohin. Es ging eine Weile, bis Lucinda merkte, dass das auch der Wahrheit entsprach. Vielleicht in einem etwas anderen Zusammenhang. Frustriert bewegte sie ihre Flügel, die vom Schlafen auf der unbequemen Bank verknittert waren, und schaute hoch in den Himmel. Die Sonne schien und es waren beinahe keine Wolken zu sehen, dafür erblickte Lucinda einige Sotíras am Himmel, die sich vielleicht den Weg ins Büro abkürzten. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Immerhin waren Sotíras mittlerweile akzeptiert in der Gesellschaft und sie musste nicht um ihre Rechte kämpfen. In einem Geschäft konnte man sowohl Fussmenschen wie auch Flügelwesen antreffen. Doch auch wenn sie nicht in die Schule musste, musste sie sich nun überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Auf jeden Fall hatte sie keine Lust, den ganzen Tag auf der Bank zu verbringen und irgendwann wollte sie auch etwas essen. 

Sie hatte Geld, ihre Sachen und einen Abschluss, aber kein Ziel. Irgendwo würde sie eine Wohnung suchen müssen und Geld verdienen, aber das war schon das Einzige, das sie über ihre Zukunft sicher wusste. Entschlossen, den heutigen Tag zu nutzen, stand sie auf, packte ihre Tasche und den Koffer und spazierte dann durch die Strassen, weg vom Wald. Dabei ignorierte sie all die Menschen, die ihr neugierig hinterherschauten. Sie hatte immer gedacht, dass man am Ende der Schule wissen würde, was man mit dem Leben anfing. Dass es einen Moment gab, in dem einem eine Erleuchtung kam und man auf einmal genau im Kopf hat, was man erreichen wollte. Aber nun, als es auf einmal so weit war, hatte sie keine Ahnung. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer misslungenen Mission. Sie hatte gar nicht so weit entfernt von dem Serienkiller übernachtet, fiel ihr da ein. Ob sie das Medaillon suchen wollte? Kopfschüttelnd fasste sich Lucinda an die Kette ihrer Eltern. Nein, das würde nirgendwohin führen. Erstens gab es das Medaillon noch, denn die Akademie hatte die Energie gespürt – wenn auch sie den Standort nicht herausfinden konnten, leider. Und zweitens war sie nun schon von der Schule geflogen und nach diesem Erlebnis hatte sie keine Lust mehr auf die Akademie. Es war das allererste ernste Vergehen, das Lucinda begangen hatte und das hatte schon für einen Schulverweis gereicht. Ihr Stolz würde es nicht zulassen, dass sie wieder angekrochen kam. Ausserdem war dieser Typ nun das Problem einer anderen Erlöserin und Lucinda würde sich einen anderen Job suchen. Was auch immer es war, überlegte sich Lucinda, es sollte nichts mit Erlösungen zu tun haben. Zwar hatte sie einen entsprechenden Abschluss, aber sie wollte ein neues Leben beginnen, mit neuen Chancen. Erst, wenn es keinen anderen Ausweg gab, würde sie sich dazu erniedrigen, das auszuüben, was die Akademie ihr gelernt hatte. Die Akademie, die ihr nun in den Rücken fiel.

Lucinda blieb abrupt stehen, als sie merkte, dass es nicht mehr weiterging. Vor ihr war ein Parkhaus und daneben standen Häuser und hohe Gebilde, über die sie nicht hätte fliegen können. Sie musste wohl umkehren. Seufzend drehte sie sich um und überlegte währenddessen, wie sie nun vorgehen sollte. Auf der nächsten Bank – sie war nicht überdacht – setzte sie sich hin und kramte einen Zettel und einen Stift aus der Tasche. Mit der Sonne im Rücken beugte sie sich über den Zettel, den sie auf den Knien deponiert hatte, und schrieb ihre To-Do-Liste auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein paar Jugendliche zu ihr hinüber schauten.

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt