Kapitel 5

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„A-aber ich brauche heute Abend eines", wandte sie ein, ohne auf seine Frage einzugehen und spürte Hitze in ihr aufwallen. „Ich muss die Mission beenden."

Milan nickte beschwichtigend, wieder einmal drückte er eine Reihe an Emotionen durch eine kleine Bewegung aus. Wie schaffte er das nur? „Das haben wir bis heute Abend herausgefunden, keine Angst."

Ihre Angst wurde jedoch noch grösser, als ihr klar wurde, wie nah ihre Deadline rückte. Ihr Leben konnte noch heute zerstört werden. Aber sie zwang sich zu nicken und presste heraus: „Okay. Danke." Hastig wandte sie sich ab und Milan machte ihr Platz, damit sie durchgehen konnte. Sie spürte seinen Blick auf sich und seine Stimme hallte in ihren Ohren wieder. Heute Abend würde ihr Leben zerstört werden, da war sie sich jetzt absolut sicher. Sobald Lucinda um die nächste Ecke ging und Milan sie nicht mehr sehen konnte, begann sie zu rennen und hörte nicht auf, bis sie atemlos in ihrem Zimmer angekommen war.

Beim Essen war Lucinda so angespannt, dass sie kaum auf ihre Mitschüler einging, die versuchten, mit ihr ein Gespräch zu beginnen. In Gedanken ging sie das grauenvolle Gespräch mit Milan durch und sie wollte sich am liebsten alle Haare ausreissen, die an den Flügeln inbegriffen. Sie hatte sich, vor Angst und vor Unfähigkeit zu lügen, völlig bescheuert aufgeführt und ganz bestimmt alles andere als seriös. Es war eine Illusion zu glauben, dass Milan die Lüge nicht durchschaute und jetzt im Nachhinein hätte sie es lieber zugegeben. Er würde herausfinden, dass es das Medaillon noch gab und er würde wissen, dass Lucinda es nicht mehr hatte. Das war eine Katastrophe! Das Medaillon durfte unter keinen Umständen in die Hände der Menschen oder anderen Sotíras gelangen, denn so würde der Standort und der Job der Akademie der Erlöser gefährdet werden. Und Lucinda alleine war schuld. Sie hätte darauf aufpassen müssen! Sie hätte doch spüren müssen, wie es abgefallen war! Warum hatte sie den Aufprall nicht gehört? Doch egal, wie sehr sie während dem Essen darüber grübelte, blieb es ihr ein Geheimnis.

An der Essensschlange vorhin hatte sie Tim in der Kurzfassung erzählt, was geschehen war, aber er sass nun an einem anderen Tisch als Lucinda. Sarah, mit der sich Lucinda normalerweise gut verstand, hatte sich neben sie gesetzt und auch die anderen an Lucindas Tisch waren Kollegen von ihr, aber es war ihr unmöglich, ein Gespräch zu beginnen und sie blockte alle Fragen ab. Ihre Gedanken konnten sich auf nichts fokussieren, ausser auf das verlorene Medaillon.

Ihre Angst wurde bestätigt, als sie kurz darauf in ihr Zimmer gehen wollte. Theoretisch sollte sie nun die Mission erledigen gehen, aber ohne Medaillon ging das nicht. Und da alle Medaillons persönlich auf jemanden abgestimmt waren, konnte sie sich auch keines von einem Mitschüler borgen – das hatte Tim ihr mit Bedauern erklärt. Zwar hatte Lucinda erwartet, dass jeden Moment ein Lehrer kommen würde um ihr zu sagen, dass ihr Medaillon noch existierte, aber als es soweit war, traf es sie dennoch überraschend. Eine Frauenstimme hielt Lucinda auf, als diese gerade die Treppe hochgehen wollte. Es war die Professorin vom Morgen.

„Lucinda, wir haben dein Medaillon gesucht und festgestellt, dass es nicht gestorben ist", sagte die Professorin, ohne sich für eine Begrüssung Zeit zu nehmen. Lucinda hatte sie im Essraum gar nicht gesehen. „Du hast eine Besprechung mit Soana im Raum der Unsterblichkeit. Sie erwartet dich dort in einer halben Stunde."

Langsam drehte sie sich zu der Frau um, die direkt hinter ihr stand, ihr Herzschlag raste in die Höhe. Nun war es soweit. Eine Besprechung mit Soana im Raum der Unsterblichkeit konnte nur zur Katastrophe werden, denn es war nicht in der Tagesordnung eines Sotíras, den Raum je zu betreten. Soana war das Oberhaupt der Akademie, noch höher als Milan. Wenn sie mit ihr reden wollte, musste es ihnen wirklich ernst sein. Was hatten sie mit ihr vor? Musste sie Busse tun? Sich von der Anführerin der Akademie zusammenstauchen und foltern lassen? Beinahe wäre Lucinda eingeknickt, wenn sie nicht eine Hand am Geländer der Treppe gehabt hätte. Ihre Atemwege verengten sich und sie rang nach Luft, damit sie nicht hyperventilierte. Jetzt war das Ende ihrer Karriere erreicht.

Endlich zeigte die Professorin ein bisschen Mitgefühl. Sie legte Lucinda eine Hand auf die Schulter und ihr strenger Blick wurde sanfter. „Es tut mir leid", sagte sie, wohl zur Beruhigung. Doch das verursachte nur, dass Lucinda noch panischer wurde, als sie es sowieso schon war. Sie musste mit allem rechnen, denn ganz bestimmt kriegte sie kein neues Medaillon. Was genau tat der Professorin denn leid? Dass sie mit Soana sprechen musste oder... sprach sie bereits von der Konsequenz?

Schnell nickte Lucinda und versteifte sich unmerklich unter dem Blick von der Professorin. „Danke für die Information", sagte sie steif und ging langsam die Treppe hoch. Die Professorin stand immer noch am selben Ort, bis Lucinda im nächsten Stock verschwand.

Die nächste halbe Stunde war der Horror. Lucinda malte sich alle möglichen Bestrafungen aus, die ihr geschehen könnten. Folter, Verbannung, Leid, Tod. In ihrem Kopf eskalierte die Situation mit jeder Sekunde und sie bekam Bauchschmerzen. Zum Glück hatte sie abgelehnt, noch Party machen zu gehen, als Sarah sie gefragt hatte. Sie hatte keine Lust, nun noch irgendjemandem zu begegnen. Nicht jetzt, wo ihr Leben ruiniert wurde. Die Hälfte der Wartezeit ging sie in ihrem Zimmer auf und ab und rang verzweifelt die Hände, die andere Hälfte der Zeit sass sie auf ihrem Bett und vergrub ihren Kopf in den Knien. Sie hatte sich nicht mehr so machtlos und ausgeliefert gefühlt, seit ihre Eltern sie sang- und klanglos verlassen hatten. Es war ein atemloses und ängstliches Gefühl, aber sie fühlte auch eine Leere in sich, wie eine vage Vorahnung, was geschehen würde.

Als es nach zwanzig Minuten endlich so weit war, dass sie sich auf den Weg machen musste, fasste sich Lucinda wieder einigermassen und brachte ihre Gefühle unter Kontrolle. Sie musste Ruhe bewahren. Die Besprechung mit Soana musste besser gehen als die mit Milan. Fluchend stellte sie fest, dass sie immer noch keine überzeugenden Argumente hatte, sondern sich die ganze Zeit über bloss Sorgen gemacht hatte. Wie konnte man so blöd sein? Einmal fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare, dann verliess sie seufzend ihr Zimmer. Jetzt konnte sie auch nichts mehr machen, ausser, ruhig zu bleiben, beschloss sie.

Lucinda hatte noch zehn Minuten, bis sie dort sein musste. Mit raschen Schritten ging sie in den mittleren Trakt der Akademie und bog dann in verlassene und enge Gänge ab, die mit einigen Verzweigungen zum geheimen Raum führten, ansonsten aber genauso aussahen wie alle anderen Gänge auch. Vor kurzem noch hatte Lucinda sich gefragt, ob sie den Raum der Unsterblichkeit sehen wollte oder nicht. Die Innenausstattung war der Wahnsinn, hatte sie gehört. Aber trotzdem war sie sich nun sicher, dass sie gut und gerne auf den Anblick hätte verzichten können in ihrem Leben. Und bevor sie es sich versah, fand sie sich vor zwei riesigen, schweren und breiten Türen wieder. Sie waren weiss wie die Wände, aber es waren etliche Muster darin zu sehen. Als Lucinda ehrfürchtig einen Schritt zurücktrat, erkannte sie, dass sie Schnitzereien im Holz eine Figur ergaben. Einen riesigen Sotíra, der die Flügel ausgebreitet hatte und gen Himmel schaute. Nur, wenn man die Flügeltüren als Ganzes betrachtete, fiel einem das Kunstwerk auf; denn wenn sich Lucinda wieder der Tür näherte, sah sie nur noch die verschiedenen Muster und Verzierungen im Holz und das Gesamtbild verschwand.

Lucinda warf einen Blick auf die Uhr, holte tief Luft und öffnete dann mit beiden Händen die Türe zum Raum der Unsterblichkeit.

***

Das ist das erste Kapitel auf dem Laptop bis hier :).

Wie gefällt es euch bis jetzt?

Was denkt ihr, kommt jetzt auf sie zu?

Und was denkt ihr, wie der Raum der Unsterblichkeit aussieht?

Engelsschwingen - AusgestossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt