"Sorry, bin schon wieder zu spät", japste ich, als ich vor Tim angekommen war. Jeden Morgen, wirklich jeden Morgen verschlief ich meinen Wecker, obwohl er bereits auf höchster Lautstärke lief, zusätzlich zu meinem Handywecker, der mich ebenfalls kaum wach kriegen konnte. Es war zum Verzweifeln mit mir und ich war meinem Freund so dankbar, dass er mich nicht versetzte, sondern immer geduldig vor seinem Haus auf mich wartete. "Guten Morgen Dino", begrüßte er mich mit einer Umarmung und struppelte mir durch meine Frisur, wofür er einen halbherzigem Schlag auf die Schulter erntete. "Och manno, du Stinker! Schau dir doch jetzt mal meine Haare an!", maulte ich und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Sprich nicht viel.
Tims Zuhause lag direkt auf den Weg und war nur fünf Minuten von meinem entfernt. Das war schon immer die perfekte Voraussetzung für unsere gemeinsamen Nachmittage gewesen. Wir konnten bei einander ein und aus gehen und unsere Eltern behandelten uns jeweils wie ein festes Familienmitglied. Das machte mich sehr glücklich, wenn uns schon alle anderen nicht gut behandelten.
Ich tastete mit meiner Hand nach seiner und wir verschlangen unsere Finger, während wir langsam Richtung Schule zottelten. Vielleicht hätten wir es auch noch vor um 8 Uhr pünktlich zum Unterricht geschafft, aber mittlerweile waren es eh alle gewohnt, dass wir dauernd zu spät kamen und die Tadel dafür machten zumindest mir nur wenig aus. Wir ließen uns von niemandem hetzen und waren deshalb frühs auch oft alleine auf dem Gelände unterwegs. Dann konnten uns keine Grüppchen auf den Gängen abfangen oder uns mit Beschimpfungen überhäufen. Wie gesagt, irgendwie war schon alles so gut, wie es war, wir hatten einander und mehr brauchte ich eigentlich auch nicht. Obwohl ich ab und zu auch das Zusammengehörigkeitsgefühl von unserem alten Freundeskreis aus der Grundschule vermisste. Gemeinsam hatten wir allen möglichen Unsinn anstellen können und bekam jemand von uns Ärger, so standen wir alle dafür gerade, alle für einen, einer für alle! Hach ja, das waren noch Zeiten gewesen. Es war nur echt eine Schande, dass sie so furchtbar homophob reagiert hatten...
Wir waren am eisernen Schultor angekommen und lösten unsere Hände wieder voneinander, liefen schweigend nebeneinander her zu unserem Klassenraum. Aber die Stille war ganz angenehm, nicht so peinlich oder drückend wie bei anderen Personen. Am liebsten hätte ich Tim nochmal umarmt, bevor wir uns den acht Stunden Unterricht stellen mussten, doch hier traute ich mich nicht wirklich. Es konnte ja trotzdem jemand sehen, der ebenfalls zu spät war oder etwas aus seinem Schließfach holen musste, also streifte ich nur noch mal kurz seinen Arm und sah ihn von der Seite leicht zu mir lächeln.
Der Lehrer hatte die Tür zum Raum natürlich trotz fehlender Schüler geschlossen. Manche warteten halt noch ungeduldig auf die letzten Nachzügler, andere sperrten sie ohne Rücksicht auf Verluste aus. Das hieß für uns gleich zum Beginn des Tages Ärger einzufangen und dazu das Gekicher unserer Klassenkameraden über uns ergehen lassen zu müssen, während wir mit gefaked betroffenen Gesichter versichern würden, dass das nie wieder vorkam. Änderte nur rein gar nichts an meiner morgendlichen Schwerhörigkeit und das wussten eigentlich alle. Bloß zur reinen Demütigung zogen die Lehrkräfte dieses Schauspiel jeden Tag mit uns durch. Bittend schaute ich Tim an, er zuckte mit den Schultern und klopfte. Sofort wurde es dahinter leise, dann näherten sich Schritte.
"Ach, das Ehepaar ist auch endlich hier", feixte Rafael, der Einzige von unserer Grundschule, der noch immer in dieselbe Klasse ging wie wir und der es innerhalb dieser Zeit nicht nur geschafft hatte, abzunehmen, Muskeln aufzubauen und seine sämtlichen Ängste zu überwinden, sondern jetzt auch ein Teil der angesagtesten Clique der Schule zu sein. Karma war manchmal echt ein Arschloch...
"Ach komm, mach Platz Specki", brummte Tim und versuchte sich und mich an Rafael vorbeizuschleusen, jedoch begegneten sich die beiden schon lange auf Augenhöhe und mein Freund kam nicht besonders weit. "Hey Schwuchtel, wenn du mich noch einmal Specki nennst, polier ich dir nachher in der Pause die Fresse! Oder soll ich mir vielleicht zuerst dein Anhängsel vornehmen?" Mit einem Blick, aus dem pure Verachtung sprach, schwenkte er zu mir und durchbohrte mich förmlich mit seiner Abneigung. Tim währenddessen lief puterrot an und ich spürte, wie ihm die Wut zu Kopf stieg.
"Wärt ihr dann mal so freundlich zu euren Plätzen zu gehen und ruhig zu sein? Ich versuche hier zu unterrichten!", rettete uns der Lehrer zum Glück aus dieser vertrackten Situation und Specki schnaubte hochnäsig, bevor er uns endlich durchließ. Die ganze erste Stunde hatte ich schlechte Laune und passte kaum auf, notierte mir nur fix was, wenn mich Tim neben mir anstubste und auf seinen Hefter zeigte. Er hatte eine echt total schöne Handschrift, auf die ich mega neidisch war und die ich schon oft zu kopieren versucht hatte. Erfolglos. Dafür zierten meine Blöcke, Blätter und jeden freien Zentimeter auf meinen Heften teils colorierte und teils mit Bleistift gezeichnete Skizzen von Comicfiguren, Filmplakaten, kleinen Portraits von meiner Lieblingssängerin Chrissy Costanza und und und... Darauf war ich wiederum sehr stolz und bildete mir ab und zu ein, dass Tim sich vielleicht auch wünschte, ein wenig besser malen zu können. Leider hatte ich ihn noch nie herumkritzeln sehen und unsere Kunstlehrerin hielt nicht viel von Aquarellen, Wasserfarben und Stillleben, nur Fotografien und Bastelarbeiten hatte sie je behandelt. Ergo konnte ich kaum einschätzen, ob Tim doch wahnsinnig talentiert war oder eher nicht. Auch auf meine Bitten hin hatte er mir jedenfalls nie etwas gezeichnet. Naja, aber das konnte ich ihm grad noch so verzeihen.
Ich wurde wieder leicht angeknufft, schreckte aus meinen Gedanken hoch und sah, wie alle anderen ihre Mäppchen und Schreibsachen einräumten. Huch, war die Stunde echt so schnell rumgegangen? Hastig packte ich meinen Kram, warf alles liederlich in meinen Rucksack und lief Tim nach, der draußen auf dem Gang auf mich wartete.
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...