26.

658 87 16
                                    

Ich nickte und Bibi gab mir einen Kuss auf die Wange, allerdings nicht nur einen Hauch wie Dagi immer, sondern einen stürmischen, gefühlsgeladenen, der Rafi bewundernd durch die Zähne pfeifen ließ. Wie erstarrt blieb ich stehen, bis sie sich wieder von mir löste und leicht rosa anlief. "Sorry", nuschelte sie noch leise.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, während Tobi meine nächste Mutprobe auf übermorgen Nachmittag nach der Schule verlegte und Bibi mich anschließend ungeduldig mit sich zog.

"Was sollte das denn jetzt?!", zischte ich aufgebracht, als wir außerhalb der Hörweite der anderen waren, und entriss ihr meinen Arm, an den sie sich gehängt hatte. "Na was wohl, Tarnung natürlich!", feuerte sie mindestens genauso aufgebracht zurück und musterte mich dann aufmerksam, "Warum hast du Tobi und Rafi erzählt, um was es bei deinem Gespräch mit Tim ging? Sollte sowas nicht eigentlich privat bleiben, vor allem dann wenn ihr euch streitet?"

"Ich habs erzählt, weil sie mich gefragt haben, darum. Sie sind meine Kumpels und Kumpeln erzählt man doch, wenn man Probleme hat!", protestierte ich dagegen. In diesem Moment hätte ich es auch in alle Welt hinausschreien mögen. Tim konnte mich mal! Aber Bibi sah das natürlich wieder ganz anders.

"Du musst aufpassen Stegi. Ardy hatte das gleiche über sie gedacht und keinen Tag später fast alles verloren, was er für sicher und selbstverständlich hielt. Ich will dir nicht drohen!", flüsterte sie hastig, als sich mein Gesichtsausdruck verfinsterte, "Hör zu: Das zwischen dir und Tim ist kostbar. Sehr sogar. Rafi hatte mal gesagt, ihr wärt seit der Grundschule und schon Jahre davor wie ein und dieselbe Person, unzertrennlich, ein Dreamteam, er hatte noch mehr solcher Vergleiche auf Lager, viel zu viele für jetzt zum Aufzählen! Bring das wieder mit ihm in Ordnung. Nichts auf der Welt kann doch wohl so wichtig oder bedeutsam sein, dass du deinen besten festen Freund dafür stehen lassen würdest! Rede mit ihm, lasst euch aussprechen, begrabt euren Streit, aber lasst euch doch nicht so auseinanderzerren!"

Bibi schien in ihrem Redeschwall nicht einmal Luft geholt zu haben und ließ mir jetzt genug Zeit zum Überlegen, während sie das nun nachholte. Am liebsten wollte ich mich grade selbst ohrfeigen, so kräftig wie ich vorhin dummer-, dummerweise Tim verletzt hatte. Bibis Worte hatten mir die Augen geöffnet. Sie hatte Recht. Es gab tatsächlich nichts, das für mich kostbarer war als unsere Freundschaft.

"Was mach ich denn jetzt?", wandte ich mich hilfesuchend an das Mädchen und sie lächelte geheimnisvoll. "Also ich wäre ja dafür, dass wir uns erstmal richtig entspannen. So wie du die letzten Tage rumgestapft bist könnte man ja denken, du hättest noch nie in deinem Leben aufrichtig gelacht! Ich lad dich gerne ein, wir können nen Film gucken wenn du willst!"

"Aber... was ist mit Tim? Sollte ich mich nicht erst mit ihm versöhnen? Und ist Ardian da nicht dagegen wenn wir uns treffen?", fragte ich unsicher.

Bibi schüttelte ihren Kopf und blies sich die dadurch aus ihrer Frisur gelösten Haare aus der Stirn. "Ich kann Ardy auch mit einladen, dann lernt ihr euch endlich mal kennen! Keine Angst, er versteht das, wirklich! Und was Tim angeht - lass ihm heute noch den Abstand, bis auch er wieder ein wenig runtergekommen ist. Morgen ist auch noch ein Tag!"


Bibis Haus befand sich im selben Wohnviertel wie Tobis, war aber nicht wirklich damit vergleichbar. Um einiges kleiner, keine Glasfronten und die Hecke um das Grundstück schien seit mehreren Jahren ihr eigenes Ding zu machen. Sah aber auch nicht übler aus als die exakt zurecht gestutzten Blattwerke ihrer Nachbarn. Das Mädchen erwartete mich bereits in der Tür und führte mich ins Wohnzimmer, aus dem uns in diesem Moment ihre Eltern entgegenkamen. "Ciao Mom, ciao Dad, viel Spaß beim Bowling", lächelte Bibi zuckersüß und ließ mir nicht mal die Zeit, mich höflicherweise bei ihnen vorzustellen.

Auf einem der beiden kleinen Sofas lümmelte sich bereits ein junger Mann mit dunkelbraunen, halblangen Haaren, der eine DVD-Hülle in der Hand hielt und uns über Kopf angrinste, als er unsere Schritte hörte. "Ups, ich sollte mich echt mal ordentlich benehmen wenn Besuch da ist", rügte er sich selbst, ehe er aufstand und mich mit einer Brofist begrüßte. "Du bist Stegi? Der Neue in der Clique?"

"Ehm... ja."

"Der, der gemeint hat, mir würden Videospiele zum Geburtstag wahrscheinlich gut gefallen?"

Oh Gott, was hatte Bibi ihm bitte alles erzählt?! Aus Furcht vor einer falschen Antwort nickte ich nur noch und schaute hilfesuchend zu ihr, doch sie machte sich bereits am Fernseher zu schaffen und schaute nicht einmal zu uns herüber.

"Und derjenige, der mein Mädchen gegen besseres Gewissen mit sich rumflirten lässt, obwohl er selbst vergeben ist?"

"D-das ist nicht so wie du denkst! I-ich sag ihr d-doch andauernd sie soll nicht..."

Verdutzt hielt ich inne, als Ardian plötzlich hauthals zu lachen anfing und seine ernste Miene sich wieder auflockerte. "Nur Spaß man, nur Spaß! Ich bin da ganz cool bei sowas. Danke übrigens für den Tipp wegen dem Geschenk, der Shooter war genau das, was ich gebraucht habe! Und ach ja, kennst du eigentlich "Ritter der Kokosnuss"? Hab ich mir letzte Woche von nem Kollegen ausgeliehen und ich sag euch, der Film ist genial!"

Bibi kicherte. "Schatz, den hast du seit über 10 Jahren bei dir Zuhause rumliegen und wir kennen ihn in- und auswendig. Du musst dich nicht dafür schämen, dass du - uaaah, lass mich runter!"

Ardy hatte sich an Bibi angeschlichen und sie rücklings über seine Schulter geworfen, wo sie nun lachend und strampelnd um Gnade bettelte. Bei diesem Anblick konnte man nicht anders, als spontan mitzugrinsen. Auch Ardy konnte gut und gerne über sich selbst lachen, setzte Bibi schließlich irgendwann wieder zwischen sich und mich auf der Couch ab und startete den Film. Dazu gab es aufgewärmte Tiefkühlpizza und Chips. Wie versprochen war der Film fast durchgehend zum Schreien witzig und ab und zu zitierten die beiden neben mir synchron ein paar Stellen, die gleichzeitig auf dem Bildschirm vor mir liefen. Tatsächlich fühlte ich mich auch zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder komplett wohl und konnte für ein paar Minuten vergessen, wie verkorkst mein Leben gerade eigentlich war.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt