Viel zu schnell kam der Mittwochnachmittag und damit der Tag der dritten und vorletzten Probe. Mittlerweile hatte ich aber kaum noch Lust dazu, sie auszuführen. Tim hatte nicht mehr auf mein Klopfen reagiert, obwohl ich bestimmt noch eine Stunde vor seinem Haus gestanden und immer wieder meine Hände gegen die Tür gehämmert hatte. Weinend. Bereuend. Aber er hatte nicht gehört. Auch nicht, als ich ihn am Abend nochmal anrufen wollte. Heute hatte er erneut in der Schule gefehlt und ich war bloß antriebslos von einem Raum zum nächsten gelaufen um dann dort zu sitzen, zu schmollen und nicht dem Unterricht zu folgen. Selbst bis jetzt spürte ich in mir noch das Bedürfnis, mich zusammenzurollen und stumme Tränen zu vergießen. Doch ich riss mich zusammen. Ich brauchte die nächsten Lösungsblätter von der Clique und war bereit, dafür zu tun, was sie von mir verlangten. Und nein, ich meinte nicht alles was sie verlangen könnten! Ich würde nicht von nem Hausdach springen, mich mit Glatzköpfen im Wrestlerformat anlegen, aus einer öffentlichen Toilette trinken, bla bla bla. Ich war ja nicht komplett bescheuert! Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass die beiden Aufgaben bisher auch noch im Rahmen der durchführbaren Möglichkeiten geblieben waren und der Ortswechsel nach außerhalb der Schule nicht gleich den Tod für mich bedeuten musste. Oder überhaupt einen großartigen Unterschied. Einfach eine größere und interessantere Auswahl an möglichen Mutproben. Ja, damit konnte ich leben.
Wir alle trafen uns vor dem etwas heruntergekommenen Supermarkt in "meinem" Viertel. Tobi, Rafi und Dagi trugen auffällig dunkle Kleidung für den Sommer, außerdem hatte das Mädchen eine verspiegelte Sonnenbrille auf, die sie aber vorerst absetzte, als ich mich zu ihnen gesellte. Wie heute früh von Taddl angeordnet hatte ich eine Snapback mitgebracht, die einzige die ich besaß und die ich wahrscheinlich seit der fünften Klasse nie mehr getragen hatte. Melina fehlte heute in der Runde, sonst waren alle da und hastig lief ich zu ihnen und füllte die offene Lücke. "So, da bin ich! Was soll ich machen?", fragte ich mit einer Spur Nervosität in der Stimme, die aber hoffentlich nicht weiter auffiel. Schien jedenfalls nicht so, sie nickten bloß anerkennend, dass ich nicht kniff, sondern bereit war für was auch immer sie gleich mit mir vorhatten. Bibi hielt sich jedoch wie immer raus, grinste nicht mit, sondern schaute mich mitleidig von der Seite an. Das ließ meine coole Fassade wieder ein wenig aufbröckeln.
"Du hast die Kappe mit, sehr schön, dann braucht dir schonmal niemand eine zu leihen. Du kennst den Laden Stegi?", fragte Tobi mich jetzt.
Ich nickte.
"Du weißt ungefähr, wo alles steht?"
Wieder ein Nicken, diesmal bedächtiger und etwas verzögert.
"Großartig! Also, wir wollen, dass du da reingehst, zu dem Regal mit den CDs, dir von der Band "Iron Maiden" das neueste Album schnappst und damit wieder hier her kommst. Ohne zu bezahlen. Kapiert?"
Die letzten vier Worte waren so hart wie Faustschläge und tatsächlich stolperte ich sogar ein Stück zurück. "I-ich soll was? Eine CD klauen? Sorry Jungs, aber das geht doch nicht! Die haben sicher Kameras, nen Ladendetektiv oder irgendwas anderes. Ich werde da doch hundertpro erwischt!"
Die anderen schienen meine plötzliche Stimmungsschwankung überhaupt nicht zu verstehen: "Hör mal, Rafi hat dort drinnen schon gefühlt eintausend Sachen mitgehen lassen und ihn hat nie jemand aufgehalten! Der Laden ist mit Technik aus dem verfickten Mittelalter ausgestattet, nix Kamera, nix Detektoren am Ein- oder Ausgang. Ich frag mich echt, wie die sich bisher über Wasser halten konnten, ohne komplett ausgeraubt zu werden oder pleite zu gehen. Komm jetzt, alles andere hast du bisher auch mit Bravour geschafft, lass dich doch jetzt nicht von ein wenig Nervenkitzel aufhalten!"
"Aber wenn die mich trotzdem kriegen-", setzte ich an, kam aber nicht weit, weil Tobi nur lahm abwinkte. "Du bist erst 16 oder sogar 15. Bedeutet nicht straffähig. Die brummen dir höchstens ne Verwarnung auf und gut ist. Also, machst dus jetzt oder bist du zu feige?" Mit verschränkten Armen schaute er auf mich hinunter. Komplett unschlüssig zupfte ich am Saum von meinem Shirt herum. Sollte ich? Sollte ich nicht? Mein Gewissen war auf jeden Fall dagegen, mein Bauchgefühl wiederum versprach mir, dass mir schon nichts passieren würde und ich unbehelligt und mit dem Beutegut in meinen Händen den Laden heute verlassen würde. Auf was sollte ich vertrauen?
"Kay. Ich geh rein, schau mich um ob das wirklich so safe ist wie ihr sagt und dann entscheide ich mich!"
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...