11.

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Tim war am nächsten Morgen ganz anders als sonst. Er schaute sich hektisch um, als würde er jemanden suchen, und als ich bei ihm angekommen war, warf er sich mir um den Hals, so schwungvoll, dass ich beinahe stolperte und nach der Umarmung sogar leicht Sternchen sah. "Hey Timbo, was ist denn mit dir los?", fragte ich überrumpelt und glücklich, doch er schien nicht gerade besonders gut drauf zu sein, sondern einfach nur erleichtert. "Ich bin so froh, dass du hier bist!", flüsterte er total überwältigt und presste mich dann noch einmal fest an sich. Huh, seltsam.

Gestern Nachmittag war noch alles normal gewesen. Wir waren zusammen heim gegangen, ich hatte Tim erzählt, dass die Clique darüber nachdachte, mich in ihren Kreis aufzunehmen und er hatte wie immer, wenn das Gespräch auf Tobi und die anderen fiel, mit dem Kopf geschüttelt. "Bist du dann trotzdem noch in einigen Pausen bei mir?", hatte er nur noch hoffnungsvoll wissen wollen, dann hatte ich ihn nach meinem eindeutigen "Ja!" Zuhause abgesetzt. Jetzt war er wie ausgewechselt, merkwürdig überdreht und zappelig. So kannte ich ihn nun wirklich nicht, selbst früher im Kindergarten hatte er auch mal still sitzen können, aber heute hielt er es allem Anschein nicht einmal eine Sekunde ruhig aus. "Alles okay bei dir?", hakte ich nach. Er zuckte zusammen, ging aber nicht auf meine Frage ein. "Hmmm", brummte er nur und auf dem ganzen Schulweg hielt er meine Hand wie seinen schützenden Rettungsring. Hatte er so große Angst darum, mich zu verlieren? Oh Gott, vielleicht sollte ich die Pause heute zusammen mit ihm verbringen und nicht zu Tobi und den anderen gehen. Mit dem furchtbar verunsichert scheinenden Jungen neben mir kam es mir fast so vor, als hätte jemand unsere Rollen vertauscht und als müsste ich plötzlich auf Tim aufpassen, anstatt er auf mich wie sonst. Und das gefiel mir nicht.

"Stegi, kommst du bitte mal mit?", fragte Bibi mich, sobald sie uns beide auf den Schulhof kommen sah. Auch sie sah nervös aus, aber sie war absolut kein Vergleich zu Tim, der sich bei ihren Worten noch fester an mich klammerte und dessen Augen einen gequälten Ausdruck angenommen hatten. Was war denn plötzlich aus meinem Helden geworden? Er war ja komplett eingeschüchtert und verängstigt! Oder lag es daran, dass gerade Bibi mich gefragt hatte, nachdem ich vorgestern noch diese dusselige Andeutung von wegen Eifersucht fallengelassen hatte. Das war echt ein scheiß Timing von mir gewesen...

"Ne, sorry Bibi. Ich muss mich heute mal um Tim kümmern. Morgen bin ich wieder bei euch."

Das Mädchen sah verwirrt von mir zu meinem Freund, zog bei seinem Anblick ihre nachgemalten Augenbrauen hoch und versuchte dann weiter auf mich einzureden: "Bitte, es ist wichtig!"

"Das hier ist für mich grade auch wichtig!"

Bibi seufzte gestresst, drehte sich um und lief zu ihren Freundinnen zurück, aber natürlich nicht, ohne mir noch über ihre Schulter hilfesuchende Blicke zuzuwerfen. Sobald sie wieder bei der Clique stand, spürte ich, wie stark Tim zitterte. Als hätte er Schüttelfrost oder sowas. "Timbo, was-?"

Und schon wieder lag ich in seinen Armen, wurde von ihm an sich gedrückt und ich hörte ihn unregelmäßig Luft holen, als würde er mit Mühe und Not seine Tränen zurückhalten. "Danke Stegi. Danke! Danke dass du mich nicht alleine lässt!"

Ich kämpfte mich frei und schaute ihn jetzt besorgt an: "Sag schon, was ist los mit dir? Das ist doch nicht normal! Was ist gestern Nachmittag passiert, dass du heute so drauf bist?"

"D-das kann ich dir nicht sagen..."

Ich stutzte. "Warum nicht? Ist es ein Geheimnis? Du weißt, ich würde es an niemanden verraten!"

"Ich kann es dir trotzdem nicht sagen. Bitte, mir gehts gut, frag nicht weiter nach. Und bleib bitte bei mir, das würde mir sehr helfen!" Er sah das Gegenteil von gut aus, obwohl sich sein Zittern allmählich wieder legte. Warum wollte er sich nicht helfen lassen? "Timbo, ich sehe ganz genau, dass dich etwas bedrückt! Wenn was ist dann sag es mir doch, zusammen finden wir schon-"

"Nein!", unterbrach er mich laut und ungehalten. Als er mein erschrockenes Gesicht sah, fuhr er leiser fort: "Nein, alles ist in Ordnung. Stell dir nur einfach vor, ich hätte das grade nicht gebrüllt."

Witzig. Sehr witzig. Aber wenn er mir halt pardu nicht sagen wollte, was mit ihm los war, dann konnte ich auch nichts weiter für ihn tun. "Hat es was mit Bibi zu tun?", stocherte ich ein letztes Mal nach, bekam jedoch nur noch ein Kopfschütteln. Nagut, dann konnte ich wenigstens morgen wieder zur Clique, ohne wegen ihr und Tim ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie war von den drei Mädels echt noch die angenehmste, zwar auch ein bisschen nervig, aber weder so aufdringlich wie Dagi, noch so besitzergreifend wie Melina. Morgen würde ich ihr wegen ihrem Problem zuhören und versuchen, herauszufinden, warum mein Freund bei ihrem Anblick so entsetzt gewesen war.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt