Und schließlich war auch die letzte Schulstunde um, in der ich tief drinnen befürchtet hatte, dass mich der Zorn der Clique noch treffen würde. Aber alles war problemlos verlaufen, keine Ahnung was mit den Vieren jetzt geschehen mochte, aber es interessierte mich auch nicht weiter. Obwohl mich jetzt wieder alle so wie früher behandeln würden, fühlte ich mich schon ein wenig wie ein Held. Ich hatte das "böse Team" besiegt und musste jetzt nur noch ihre hinterlassenen Bruchstücke wieder zusammensetzen. Ich musste unbedingt mit Tim reden, mich bei ihm entschuldigen und darauf hoffen, dass er mir noch ein einziges Mal verzieh.
Schon eher aus Gewohnheit wartete ich für den Heimweg auf Bibi, umarmte sie zufrieden und verließ dann mit ihr den Schulhof. Wir sprachen nicht viel, hielten keinen Blickkontakt und berührten einander nicht, nicht einmal versehentlich. In gewisser Weise war auch das ein Abschied für mich, von einer recht gern gewonnenen Freundin mit der ich das bisher dunkelste Kapitel meines Lebens durchstanden hatte. Sie würde mir fehlen.
"Das wars dann, oder?", murmelte sie, als wir vor meinem Haus angekommen waren, und ich nickte bestätigend. "Tja, alles hat leider irgendwann ein Ende. Grüß Ardy nett von mir und sag ihm, dass er ja gut auf dich Acht geben soll. Man trifft nicht viele so nette Mädchen wie dich im Leben."
Sie wurde rot und kicherte. Ich konnte auch nicht anders, als mit ihr zu schmunzeln. Wäre ich nicht schwul, hätten jetzt aber extreme Alarmglocken läuten müssen!
"Du wirst mir fehlen, Bibi", gab ich zu.
"Du mir auch Stegi!"
"Bis irgendwann mal."
"Viel Glück mit deinem Freund. Ihr habt nach den Strapazen eine schöne lange Zeit zusammen verdient!" Sie schulterte ihren Schulranzen und lief die Straße weiter, ohne sich noch einmal umzuschauen. Bis sie irgendwann in eine Seitenstraße abbog. Dann löste ich endlich den Blick von ihr, suchte in meinem Zimmer ein wenig Geld zusammen und lief zu dem Supermarkt, um Tim einen Blumenstrauß mitbringen zu können, jetzt natürlich für den entsprechenden Preis. Kitschig, aber er hatte sich schon immer über sowas gefreut. Darin unterschieden wir uns vermutlich am meisten. Zwar mochte ich auch den Geruch der Blüten, aber als Geschenk konnte ich damit nie etwas anfangen, während Tim fast immer mindestens eine Vase griffbereit hatte. Die Gedanken an diese Selbstverständlichkeiten von früher gaben mir ein wenig Mut. Bald würde es hoffentlich wieder so sein wie früher. Ich wünschte es mir jedenfalls so sehr.
Doch als ich den Umzugswagen vor seinem Haus entdeckte, erstarrte etwas in mir zu Eis. Der Strauß fiel vor meinen Füßen zu Boden. Nein... Bitte sag, dass ich mich täuschte! Dass die Nachbarn von Tim bloß dieselbe Couch besaßen wie die, die gerade von den Möbelpackern mit anderen mir sehr bekannt vorkommenden Dingen zugestellt wurde. Doch so großen Zufall konnte es vermutlich nicht geben. Hieß das, ich... ich würde Tim nie wiedersehen...?
Wie gerufen trat er in diesem Moment aus dem Haus, umarmte seine Mutter und schaute ein letztes Mal die Fassade hinauf, die er für so lange Zeit sein Zuhause genannt hatte. Dann kreuzten sich unsere Blicke. Für mehrere Sekunden, die sich gleichzeitig jedoch wie Stunden anfühlten. Meine Augen flehend, nach einer Antwort verlangend, warum er das tat. Seine undurchschaubar, vielleicht am ehesten noch bedauernd über die Tatsache, dass ich es so auf diesem Weg erfuhr. Er wandte sich ab, kletterte auf den Beifahrersitz des Wagens und tuckerte langsam davon.
Da kam Bewegung in meine Beine zurück. Tim! Er durfte nicht gehen! Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben, schaffte es sogar auf den ersten Metern den Abstand zwischen uns zu verringern, doch dann nahm das Auto an Fahrt auf. Es bog um die nächste Ecke und als ich dort endlich angekommen war, hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Meine Knie gaben nach, ich schlug hart auf dem Bürgersteig auf und starrte mit leerem, fassungslosem Blick in die Ferne. Er war weg... Einfach aus meinem Leben verschwunden... Er hätte sogar in Kauf genommen, dass ich es irgendwann später erst von Sally oder seiner Mutter erfuhr.
Das war das vorletzte Mal, dass ich Tim gesehen hatte. Einmal fand ich ein Bild von ihm in der Zeitung unter der prangenden Überschrift "Nachwuchstalent verstärkt Basketballteam – Grandioser Sieg beim letzten Punktspiel". Tim war noch einmal ein ganzes Stück in die Höhe geschossen. Verschwitzt, erschöpft, aber glücklich und sichtlich zufrieden lächelte er für die Kamera. Den Basketball hatte er noch immer unter seinen kräftigen Arm geklemmt, das klatschnasse Trikot klebte an seinem Körper und enthüllte deutlich erkennbare Bauchmuskeln. Anscheinend hatte er seit all der Zeit viel und hart trainiert, um sich endlich seinen großen Traum zu erfüllen. Und er war noch immer so perfekt. So makellos und fehlerfrei wie früher. Und ich vermisste ihn so schrecklich doll. Ohne ihn fühlte sich mein Leben leer und sinnlos an. Vielleicht würde er sich ja eines Tages auch wieder erinnern. Nicht an den Jungen, der ihn zugetrunken und mit einem Lachen abservierte, sondern an seinen langjährigen Spielkameraden, Zuhörer, Sitznachbarn, Freund und schließlich erste große Liebe. Irgendwann einmal. Wann auch immer das sein würde, ich schwor mir, ewig auf ihn zu warten, von mir aus auch über dieses Leben hinweg im nächsten. Oder im übernächsten, dem darauf folgenden, schlichtweg: für immer. Bis sich unsere Pfade wieder kreuzen sollten und ich die Möglichkeit hatte, ihm noch einmal meine Gefühle zu gestehen...
Seit dieser Zeit sind fünfzehn Jahre vergangen. Ich hatte bisher nie wieder eine Freundin gehabt und ebenso wenig einen Freund. Nach der zehnten Klasse habe ich die Schule abgebrochen, da ich bloß sinnlos dagesessen hatte und eigentlich nur noch körperlich anwesend war. Es hat lange gedauert, ohne ein Abitur eine Ausbildung mit guten Aussichten für die Zukunft zu finden, doch irgendwie habe ich nach langer Suche etwas gefunden. Doch selbst meinen Job mache ich seit den knapp zehn Jahren nicht gerne und nur halbherzig. Nichts fühlt sich so allein richtig oder gut an. Es fehlt einfach etwas. Du fehlst. An deiner Stelle befindet sich jetzt stattdessen ein schwarzes Loch, das meine Emotionen frisst. Stück für Stück.
Du bist in deine Geburtsstadt zurückgekehrt, hast dein Abi an einer Schule in Essen gemacht, dort viele neue Freunde gefunden, jemand hat zufällig und glücklicherweise dein Talent für Basketball entdeckt und nun bist du der Starspieler in der Männermannschaft, obwohl du unter ihnen anfangs das jüngste Vereinsmitglied seit vielen Jahren warst. Du bist bekannt geworden, von vielen beneidet und angehimmelt und hast mehrere Angebote von anderen Trainern bekommen, die dich in ihren Mannschaften haben wollen. Manchmal habe ich Angst, dass du mich vielleicht nach all der Zeit vergessen hast. Ich meine, wer bin ich denn jetzt noch? Aber falls du mich noch kennst und mir verzeihen kannst für meine Fehler, dann ruf mich bitte an. Eine SMS würde auch schon reichen. Die Nummer ist noch immer dieselbe wie früher, ich habe mich nie getraut, sie zu ändern. Und ich wohne auch immer noch in Karlsruhe, gleiche Adresse. Ich habs halt nie zu etwas besserem gebracht. Bitte melde dich.
- In Liebe, dein Stegi
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...