POV Tim
Ich schaute von meinem Computer auf und blinzelte als ich sah, dass ich seit mehr als einer Stunde dagesessen und diesen Text gelesen hatte. Seit fünfzehn Jahren... Natürlich hatte ich Stegi nie vergessen, wie auch? Er war so lange ein Teil von mir gewesen und bis heute schmerzte mich der Verlust unserer Verbundenheit. Ich wusste selbst nicht mehr genau, warum ich damals so überstürzt aus Karlsruhe geflohen war. Wahrscheinlich hatte ich die ganzen Erinnerungen an uns beide nicht mehr ausgehalten.Er sagte also, dass er noch immer da war und auf mich wartete. Nach all der Zeit. Ich stand auf, klappte den Laptop zu und verließ das Wohnzimmer. "Moni?", rief ich durch die Zimmer und hörte meine Freundin aus der Küche zurückrufen: "Ja, was gibt's denn mein Großer?"
Sie bereitete eben das Abendessen zu, das ich vermutlich nie anrühren würde, wenn ich meine Entscheidung durchzog. Aber sie verdiente eine Erklärung. Ich stellte mich hinter sie, legte meine Hände vorsichtig an ihre Hüften und flüsterte in ihre recht kurzen, blonden Haare: "Liebling, ich muss los. Es ist sehr wichtig für mich und ich werde vielleicht ein paar Tage weg sein. Mach dir keine Sorgen, mir wird es gut gehen, okay?"
Erschrocken drehte sie sich um, schaute mich aus ihren großen, blau-grünen Augen an und legte ihre Hände auf meinen Unterarmen ab. "Ein paar Tage, echt so lange? Wohin willst du denn?"
Die Ähnlichkeit, die mich immer ein wenig getröstet hatte, schnürte mir jetzt die Kehle zu. Monika hatte jemanden verdient, der sie besser behandelte als ich und der sie nicht in einen Spiegel in die Vergangenheit verwandelte. Wenn ich weg war, würde ich es ihr per Telefon sagen und Schluss mit ihr machen. Jetzt beließ ich es erst einmal bei einem simplen: "Einen alten Freund besuchen gehen."
POV Stegi
Wieder wachte ich auf, schlug meine Decke zurück und stand auf, um zu frühstücken und mich für die Arbeit fertig zu machen. Jeden Tag das selbe, es schien mir alles so trist und grau. Während ich meinen Toast hinunterwürgte, wanderte mein Blick immer mal wieder zu der kleinen Schachtel neben mir, in der meine "Medizin" lagerte und darauf wartete, von mir eingenommen zu werden. Kurz hielt ich zögernd inne. Es war durchaus verlockend. Sollte ich sie heute vielleicht mal nehmen? Immerhin hatte ich jede erdenkliche gesundheitliche Störung bei allen möglichen Doktoren für die Dinger vorspielen müssen, nur für eine einzige Packung. Zwei oder drei der Tabletten sollten bereits helfen.Wie jeden Tag langte ich nach der Verpackung, öffnete sie, las mir die Gebrauchsanweisung für die richtige Dosierung durch und ließ den Zettel mutlos wieder sinken. Schließlich konnte heute der Tag sein. Der Tag, den ich mir so sehr herbeisehnte. So unwahrscheinlich das auch war. Es konnte ja trotzdem sein. Bei diesem Gedanken legte ich die "Medizin" dann immer beiseite, atmete mit in den Händen vergrabenem Gesicht mehrere Male durch, bis der Schluchzreflex wieder verschwunden war, und zog mich dann an, um mit meiner Schrottkarre zur Arbeit zu fahren. Auch die Kleidung, die ich trug, schien jeden Tag die gleiche zu sein. Trist und Grau, in jeder Hinsicht. Ich seufzte. Lange hielt ich diese bedrückende Leere nicht mehr aus. Ich war verzweifelt. Ich wollte nicht mehr. Aber jetzt hatte ich nunmal meine Lebensgeschichte im Netz veröffentlicht, als allerletzten Versuch, um meine einzige große Liebe zurückzugewinnen. Sicherlich eh vergebens. Doch so hatte ich meine Hoffnungslosigkeit wenigstens kurzzeitig begraben können. Immerhin bestand jetzt wieder die minimale Möglichkeit, dass er mich fand. Ich könnte mir nicht verzeihen, sollte er wirklich zurückkommen und einen erhängten Stegi vorfinden, einen verbluteten Stegi, einen, der sich unter der Dusche mit Strom selbst gebrutzelt hatte oder all die anderen kranken Methoden, über die ich ab und zu in den letzten Jahren durchaus nachgedacht hatte. Das machte vermutlich die Einsamkeit aus einem. Einen Menschen, der nicht einmal vor dem Tod noch Angst oder Respekt hatte.
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...