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"Da fällt mir ein, ich hab noch das Schulzeug mit. Wir haben ziemlich viel aufgeschrieben, mal sehen ob du damit bis Montag hinterher kommst. Der doofe Mathefritz will da direkt was schreiben. Aber wenn du willst, kann ich dir da helfen!"

Ich katapultierte mich von dem Krankenhausbett nach oben und schlenderte zu meinem Rucksack in der Ecke des Raumes, wobei ich ein Blatt gesondert herausnahm und hinter meinem Rücken einmal faltete. Das war der große Joker für den Fall, dass Tim ebenso wenig von dem Stoff verstand wie ich. Er nahm den restlichen Stapel entgegen, runzelte die Stirn und sortierte die Kopien nochmal für sich. Als er bei dem Matheteil ankam, begann sich auf seiner Stirn ein leichter Schweißfilm zu bilden. "Hmmm. Stegi, hilfst du mir mal bitte dabei? Wie kommt man hier auf das Ergebnis?", erkundigte er sich schon wieder sehr viel gefasster als noch vorhin. Langsam schien er auch seine alten Züge zurückzugewinnen und sich so zu verhalten, die er gewesen war, bevor er mit einem Milzriss hier gelandet war. Lächelnd kam ich ums Bett gelaufen, schaute mir das Chaos aus Zahlen und Rechenzeichen an, auf das er zeigte und das ich auch nur ratlos von der Tafel übernommen hatte. "Weiß ich auch nicht so recht", gab ich zu, mein Grinsen wurde breiter, "aber das brauchen wir auch nicht zu begreifen, solange wir die hier haben!"

Endlich konnte ich das Blatt in meiner Hand wieder entfalten und damit meinem Freund vor der Nase herum fuchteln. Gespannt wartete ich, bis er es mir aus der Hand nahm und sich durchlas. "Das ...sind aber nicht zufällig die Lösungen für die Arbeit, oder doch?", fragte er verunsichert und glücklich nickte ich. "Die hab ich am Freitag bekommen, dafür dass ich-"

Scheiße, das war schon zu viel gesagt. Tim musterte mich misstrauisch. "Dafür dass du was?", bohrte er nach und ich winkte geringschätzig ab. "Egal, auf jeden Fall brauchen wir uns darum keine Gedanken zu machen! Rafi kann über seinen Bekannten praktisch alle Lösungen zu allen Arbeiten in allen Klassenstufen besorgen, Tobi hat auch schon ausgetestet, ob die Antworten stimmen! Eins zu eins das, was der Lehrer abgefragt hat, hat er gesagt! Tim, damit werden wir in allen Fächern mit Topnoten bestehen! Stell dir das doch mal vor, wir könnten uns an den besten Unis oder bei den coolsten Arbeitsstellen bewerben, wenn wir in zwei Jahren unser Abi mit einem glatten Einserdurchschnitt ablegen!"

Meine plötzliche Euphorie ebbte augenblicklich ab, als mein Freund das Lösungspapier wieder zusammenfaltete und mir zurück in die Hand drückte. "Wie auch immer", murmelte er und vertiefte sich zurück in den Mathekram, "ich brauch nicht zu schummeln, das krieg ich auch so hin."

Ich glaubte zu verstehen und stupste ihn schelmisch in die Seite: "Hey, ich kann ja verstehen, dass du dafür nicht der Clique beitreten willst, aber das Ding gehört jetzt mir und ich darf es geben, wem auch immer ich will! Völlig umsonst! Komm schon, das tut doch keinem weh, wenn wir halt... effektiver lernen! Das ist kein Schummeln, das sind Vorteile durch gute Connections! Oder glaubst du, dieser Conni-"

"Luca"

"-wie auch immer, glaubst du, der wäre so gut in Deutsch, wenn seine Mom das nicht jeden Tag mit ihm üben würde? Nur weil die auch am Gymi unterrichtet, kennt der Typ ebenfalls exakt den Stoff, der in Arbeiten drankommt! Das ist genau das gleiche!"

"Ist es nicht. Ein Lösungsblatt ist wie ein Spicker, das ist klarer und deutlicher Betrug. Benutz du es meinetwegen, wenn du dich damit besser fühlst, aber ich will es nicht." Mit noch mehr Nachdruck als zuvor starrte Tim auf die Kopien, doch wieder einmal fixierte er einen Punkt dahinter, irgendwo in den Tiefen des laminierten Bodens. Seine Anschuldigungen und seine Sturheit stauten unglaubliche Wut in mir auf. "Du willst das doch bloß nicht haben, weil es von Tobi und Rafi stammt! Du bist nur eifersüchtig, dass die etwas haben, was du nicht hast!"

Schnell stand ich auf und schnappte mir meinen Rucksack, stieß die Tür auf und hörte Tim mir nachrufen: "Du hast Recht. Die haben etwas, was ich nicht mehr habe. Dich!" Dann schlug die undurchsichtige Glasbarriere zwischen uns zu und ich rannte mit Tränen in den Augen zum Fahrradständer draußen, schnappte meinen Drahtesel und radelte so schnell wie noch nie zuvor nach Hause zurück.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt