Am nächsten Tag nach der Schule machte ich mich sofort auf den Weg zum Krankenhaus und fand Tim in seinem Bett sitzend vor. Er wirkte ermattet, sein Mittagessen stand unangerührt auf einem Tablett am Fußende. Als er die Tür hörte, drehte er sich nicht einmal um. "Hat Stegi sich irgendwann mal nach mir erkundigt?", fragte er vor Trauer halb erstickt und trotz meiner Sorge um ihn konnte ich es mir nicht nehmen lassen, mit leicht verstellter Stimme laut zu überlegen: "Hmm, mag sein, aber du kannst ihn auch ruhig selbst fragen!"
Er schnellte herum und schaute mich mit einem Blick an, den ein fast verhungerter Hund wohl bei dem Anblick eines saftigen Steaks auch machen würde. "Stegi!", schrie er beinahe und versuchte sich aus seinem Schlaflager zu befreien. Hastig kam ich ihm entgegen, bevor er sich überanstrengte oder in seiner Hektik auf den Boden umkippte und ließ mich von ihm kräftig Knuddeln. "Stegi, ich bin so froh! Ich dachte dir wäre gestern was schlimmes passiert, als du mir nicht geantwortet hast. Ich dachte, Rafael und die anderen-" Er redete nicht weiter, drückte mich nur an sich und weinte stumme Tränen. Sofort meldete sich in mir das schlechte Gewissen zurück, dass ich mich gestern mit unserem gemeinsamen und langjährigen "Feind" hinter Tims Rücken verbrüdert hatte. Nein, wenn ich mit ihm darüber reden würde, dann erst ganz am Schluss vom heutigen Tag. Sonst würden wir uns nur wieder zanken, so wie letztes Mal.
"Wie meinst du das, ich hab dir nicht geantwortet?", machte es dann auch endlich Klick in meinem Kopf, "Ich hatte dir doch geschrieben und du hattest dich den ganzen Abend nicht bei mir gemeldet."
Tim sah verwirrt aus, tastete nach seinem Handy auf dem Nachttisch und zeigte mir den noch geöffneten Chatverlauf von uns, mit dem er sich heute scheinbar mehr als nur einmal oder zehnmal oder sogar hundertmal bereits einen Anstarrwettbewerb geliefert hatte. Da war auch meine Nachricht a la "Schreib mich an wenn du wach bist!" Und darunter ein ewig langer Text von Tim. Aber nur ein Häkchen auf Whatsapp. Ich hatte sie nicht bekommen. Aber warum nicht?
"Ist bei euch vielleicht wieder der Wlanrouter ausgefallen?", fragte mein Freund zwinkernd und ich griff mir an die Stirn. Natürlich, das mittlerweile etwa wöchentliche Problem mit meiner Internetverbindung. Da hätte ich auch so drauf kommen können, aber wirklich mal!
"Ou fuck man, sorry Tim! Tschuldigung dass ich dir Sorgen bereitet hab", nuschelte ich gegen seinen Brustkorb, an den ich kurz zuvor seufzend über meine eigene Dummheit meine Stirn hatte sinken lassen. Wieder spürte ich seinen ganzen Körper leicht vibrieren, als er leise lachte. "Schon gut, jetzt bist du ja hier."
Eine Weile saßen wir einfach nur schweigend da und genossen die Nähe zueinander, dann löste Tim mich vorsichtig von sich und fragte gespielt heiter: "Und, was macht die Schule? Habt ihr schon Chemie wiederbekommen?"
Okay, kritisch. Er wollte natürlich alles wissen, obwohl er nur von der blöden Arbeit sprach. Von der Schule, von Zuhause, von der Clique. Und ich musste jetzt filtern: was konnte ich erzählen ohne Beschwerden von Tim zu ernten und was nicht. Der Ausraster im Kunstunterricht ging schonmal gar nicht, die Party auch nicht, dass ich mich heute gegen Abend mit Bibi treffen wollte-
"Stegi? Huhu, bist du noch da?"
Ich boxte ihn auf die Schulter und tat beleidigt: "Nein, haben wir nicht, du weißt doch wie faul die Trulla ist."
"Und?", fragte Tim nach einer kurzen Schweigepause.
"In Deutsch schreiben wir bald was", murmelte ich noch immer nachdenklich.
"Und weiter?"
"Keine Ahnung, viel mehr ist nicht passiert..."
Geräuschvoll atmete mein Freund aus. "Ach komm schon, irgendwas ist los. Sonst lässt du dir doch auch nicht alles aus der Nase ziehen!" Mist, er bekam sowas immer sofort mit. "Es ist nichts", versuchte ich mich rauszureden, doch an Tims Ausdruck sah ich, dass er mir nicht glaubte. "Der Rest war wirklich nicht erwähnenswert. Das Schulzeug bring ich dir am Wochenende mit und bei den Hausaufgaben helf ich dir auch!"
Tims Augenbrauen wanderten jedoch noch weiter in die Höhe. Er sah verletzt aus, während ich fieberhaft überlegte, was ich ihm noch gefahrlos erzählen konnte. "Du verheimlichst mir doch was Stegi. Was ist los? Ich bin dir doch nicht sauer, auch wenn du deswegen vorgestern nicht herkommen konntest. Das kann ich verstehen, aber bitte rede doch mit mir!"
Hah, das kam mir ja seltsam bekannt vor. So ähnlich hatte ich mich doch schon ihm gegenüber ausgedrückt und er hatte auch nicht mit der Sprache darüber rausrücken wollen, wer ihn verprügelt hatte. "Ja, dann hab ich halt ein Geheimnis vor dir. Und? Hast du schließlich auch!", rutschte es mir heraus, bevor ich mich umentscheiden konnte.
Sofort breitete sich eine eisige Stille zwischen uns aus und erschrocken schauten wir uns an. Meine Hand wanderte zu meinem Mund, doch das machte meine Worte jetzt ja auch nicht ungeschehen. Tim war derjenige, der dann den Blickkontakt traurig unterbrach. "Du hast ja recht", gab er kleinlaut zu, "ich bin in dem Fall nicht besser als du."
Die Art, wie er das sagte, nahm mir allen Wind aus den Segeln. Ich wollte ihm trotzig zustimmen, mich gleichzeitig bei ihm entschuldigen und eigentlich nur diese dumme Geheimniskrämerei und unseren Streit beilegen. Ich entschied mich des Friedens willen für die letzte Variante. "Hör zu Timbo: Ich möchte vor dir nichts verbergen. Aber es könnte dich kränken wenn ich dir davon erzähle. Wenn du es trotzdem hören willst, dann bin ich auch ganz offen mit dir."
Er nickte und ich holte tief Luft, vor allem um mich selbst zu beruhigen. In mir begann es nämlich nervös zu brodeln. "Okay, ich-ich konnte dich nicht besuchen, weil Tobi eine Party geschmissen hat und mich insbesondere eingeladen hat. Ich glaube, sie testen, wie sehr sie sich auf mich als Mitglied der Clique verlassen können. Und heute wollte ich noch mit Bibi abhängen, aber wirklich nur irgendwo hin und fix was essen gehen. So, das wars. Ich wollte doch nur, dass du dich nicht schlecht fühlst!"
Entgegen meiner Erwartungen hellte sich Tims Miene auf. Mit einem schmalen Lächeln lehnte er sich gegen das aufgestellte Kopfkissen hinter sich und struppelte durch meine Haare: "Das ist schön. Wenn es dir bei denen gefällt und du glücklich bist, bin ich auch glücklich. Hauptsache, dir geht es gut." Mein Freund sah plötzlich um einiges älter aus, als er eigentlich war. Irgendwie zerbrechlich und leidend trotz seiner gehobenen Mundwinkel und seiner hoffnungsvoll schimmernden Augen. Und obwohl ich wusste, dass meine Frage die soeben entschärfte Atmosphäre zerstören würde, griff ich nach Tims Hand und drückte sie fest mit meiner. "Erzählst du mir nun, was dich so bedrückt? Ich habe dir alles gesagt, da wäre es doch nur fair, wenn-"
Er presste mir ein wenig stärker als nötig seine freie Handfläche vor den Mund und schüttelte energisch seinen Kopf. "Das kann ich nicht und du willst auch hundert prozentig nicht wissen, was es ist. Bitte, ich würde es dir so gerne sagen, aber versuche mich nicht! Ich... ich will dich doch nur beschützen Stegi!"
Ich richtete mich auf, löste mich von ihm und schaute ihn wütend und verzweifelt an. Vertraute er mir echt so wenig? Obwohl ich ihm gerade mein Herz ausgeschüttet hatte!? Was war nur mit ihm los? Seit wann war er denn so... verklemmt und misstrauisch? Ich spürte, wie sich in meiner Kehle ein unförmiger Klumpen bildete, der mich am sprechen und überhaupt am ruhig atmen hinderte.
"Nagut", presste ich schluchzend mit letzter Energie hervor, "dann lös dein Scheißproblem halt alleine!"
Ich rannte nach draußen und hörte ihn hinter mir meinen Namen rufen, aber ich drehte mich nicht zu ihm um. Nicht solange er nicht mit seinem Geheimnis herausrückte, was auch immer das sein mochte.
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...