27.

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Ich hatte mir in etwa zurechtgelegt, was zu tun war und wie ich Tim auf die Problematik ansprechen wollte. Zuerst einmal würde es heute keine Umwege geben, ich wollte pünktlich vor seiner Tür stehen und ihn abholen, wie früher immer. Dann die Pause mal wieder bei ihm verbringen, außerhalb der Sichtweite von der Clique, damit ich denen später sagen konnte, dass mich eine Lehrerin aufgehalten hatte. Und nach der Schule wollte ich etwas mit ihm zusammen unternehmen, das Freibad bot sich bei den hohen Temperaturen eigentlich ideal an!

Doch es scheiterte bereits am ersten Vorhaben, denn egal, wie lange Bibi und ich vor seinem Haus warteten und wie oft wir klingelten, niemand machte uns auf. "Vielleicht ist er schon zur Schule gegangen", meinte meine Begleitung enttäuscht und ich musste ihr wohl oder übel zustimmen. Hätte ich an seiner Stelle vermutlich auch getan. Er musste verdammt sauer auf mich sein... Ich war auch ein Trottel gewesen, aber nach dem Tag zusammen hoffte ich, wenigstens ein bisschen von dem wieder gutmachen zu können, was ich angerichtet hatte. Dann musste ich ihm halt vor der ersten Stunde im Klassenraum sagen, dass es mir leidtat.

Tim war jedoch auch nicht an der Schule, die ganzen acht Stunden saß ich alleine an unserem gemeinsamen Tisch und zermarterte mir das Gedächtnis, warum er wohl fehlte. Schwänzen sah ihm nämlich gar nicht ähnlich, vor allem nicht, nachdem er die letzten eineinhalb Wochen gefehlt hatte. Als ich Bibi in der Pause darauf ansprach, begann sie sich furchtbare Vorwürfe zu machen und schien mir gar nicht zuhören zu wollen, dass sie mit ihrem Vorschlag zum Filmeabend bei ihr nicht daran Schuld sein konnte. Und wenn schon, ich hatte ihr zugestimmt, also war es allerhöchstens mein Fehler.

Die Uhr schien einfach nicht normal laufen zu wollen, wann immer ich zu den Zeigern hochsah, hatten sie sich nur um Millimeter bewegt. Dazu kam, dass heute eine Biostunde war, die erste nach meiner Aktion am Freitag. Stumm ertrug ich das wütende Donnergrollen in der grässlich bunt gemusterten Bluse, das mindestens die Hälfte der Unterrichtsstunde vorne über mein Verhalten wetterte, bevor sie sich wieder in die gleichgültige Ökofrau zurück verwandelte und mit ihrem Lernstoff begann. Doch als dann endlich alle Stunden rum waren und wir für heute gehen konnten, war die schlechte Laune schon wieder vergessen. In Rekordzeit verließ ich das Schulgelände und rannte den kompletten Weg zu Tims Zuhause. Hoffentlich war er jetzt da. Zu schwer wäre die Last der Schuld auf mir, wenn ich mich nochmal einen Tag gedulden musste.

Mit hinter dem Rücken hoffnungsvoll gekreuzten Fingern klingelte ich schließlich und lauschte, ob sich jenseits der Tür jemand bewegte. Es dauerte, aber dann hörte ich tatsächlich die schweren rumpelnden Schritte auf der Treppe nach unten holpern. Tim war da! Zum Glück.

Schlüssel raschelten ganz nah an der Tür und wurden rumgedreht, dann öffnete sie sich zögerlich einen schmalen Spalt breit.

"Tim? Ich wollte mich bei dir entschuldigen wegen gestern und... u-und..."

Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Mein erschrockener Blick wanderte langsam von seiner aufgesprungenen, dicken Lippe hinauf zu dem Kühlakku, den sich mein Freund vor die gesamte rechte Gesichtshälfte hielt. Vorsichtig und mit weit aufgerissenen Augen tastete ich mit meiner Hand nach seiner und bereitwillig ließ Tim sie sinken. Darunter kam ein tiefblau angelaufenes Veilchen zum Vorschein, das mich vor Schreck zusammenzucken ließ. "T-tim, was ...was ist passiert?", wollte ich den Tränen nahe wissen, doch er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. "Wurde vermöbelt, siehste doch", antwortete er kalt und wollte die Haustür bereits wieder schließen, als ich schnell meinen Fuß dazwischenstellte und ihn so aufhielt. Meine Stimme und auch mein ganzer Körper zitterten plötzlich, als wäre die Temperatur von einer Minute auf die andere um 30° gefallen.

"Wird das jetzt jeden Tag so weitergehen?", flüsterte ich, ich meinte die Distanz zwischen uns, die Abneigung, dass er nicht zur Schule kam, geschlagen wurde, dass wir uns anlogen und aus irgendwelchen Gründen einander nicht länger vertrauen konnten. Ich wusste nicht, wie viele der versteckten Bedeutungen er mir mit seinem anschließenden Nicken beantwortete, bevor er meinen Schuh aus dem Türspalt drückte und mit einem lauten Knall wieder von innen abschloss. Ich hoffte, er hatte sie nicht alle zugleich gemeint. Ich- wir, wir gehörten doch zusammen! Schon seit so langer Zeit und trotzdem schob sich jetzt dieser Keil zwischen uns, der das unsichtbare Band, das uns verknüpfte, aufzulösen und zu zermalmen begann. Und ich trug die Schuld daran.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt