Ich wusste nicht, woher meine plötzliche Wut auf Tim kam, aber klar war für mich, dass ich diesmal nicht klein beigeben wollte. Nicht jedes Mal, vor allem, wenn ich im Recht lag! Rafi würde seinen Bogen sicherlich seinen Kumpels außerhalb der Clique weiterschenken, Dagi, Bibi und Melina den Mädchen ihrer Klasse, Taddl konnte ich leider nicht einschätzen. Aber so oder so, bald würde die ganze elfte Klassenstufe diese Bögen besitzen und durch Rafi danach irgendwann auch alle Schüler der zehnten. Alle bis auf Tim. Dann war es nunmal ganz normal, nur noch Einsen zu schreiben. Dann war es kein "Schummeln" mehr. Wie lange er es aushalten würde, bis er sich doch eines der Zauberblätter abholen würde, um nicht vollständig im Strom unterzugehen?
Auf jeden Fall hatte ich beschlossen, vorerst einen anderen Weg zur Schule zu laufen. Das irritierte Bibi zwar, aber sie kam bereitwillig mit und fragte nicht, warum ich heute früh so kalt und abweisend war. Kein Tobi erwartete uns, das hieß, dass ich mich vollständig auf die Schule konzentrieren konnte und nicht wieder über eine seiner Proben nachzudenken brauchte.
"Dann bis zur Pause", verabschiedete sich das Mädchen noch, ehe sie die Treppen hinaufschunkelte und dabei sehr auffällig mit ihrem Hintern wackelte. Ich drehte ab und lief zu den Chemieräumen, wo ich mich fünf Minuten vor dem Unterrichtsklingeln an den leeren Tisch setzte. Tim war noch nicht da.
In der ersten Stunde bekamen wir die Arbeiten zurück, wie wir an dem Tag geschrieben hatten, nachdem ich bei meinem Freund übernachtet hatte, und zufrieden atmete ich durch. 1- . Das reichte mir vollkommen. Ein Teil der Anspannung vor den noch anstehenden Erlebnissen fiel von mir ab und so merkte ich gar nicht, wie die Zeit verging, bis es irgendwann mitten im Unterricht an der Tür klopfte. Alle Mitschüler hoben erwartungsvoll den Kopf, sie wussten schließlich nicht, dass Tim heute wiederkommen würde, aber ich machte mich so klein wie möglich und schaute nur kurz auf, als seine Tasche unser Pult erschüttern ließ. Er sah aber nicht besonders wütend aus, nur etwas durch den Wind und seine Haare waren zerzaust. Einen winzigen Moment lang wollte ich sie ihm liebevoll mit ein paar Handstrichen richten, aber ich konnte mich noch beherrschen. Immerhin war ich noch wegen den Bemerkungen vom Wochenende sauer auf ihn.
"Warum bist du schon hier? Hast du mich vergessen?", fragte Tim, während er hastig sein Zeug auspackte. Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört, zuckte nur abwesend mit den Schultern. Er verstand, drehte sich ebenfalls von mir weg. "Nagut, das Spiel kann ich auch spielen", brummelte er beleidigt und entging geradeso einem scharfen Blick der Lehrerin, die sich in diesem Moment nach der Quelle für die Unruhe im Klassenraum umschaute.
Und unser Schweigen zog sich auch weiter fort, durch die zweite Chemiestunde, in der Tim seine Arbeit mit einer glatten 1 zurückbekam, durch Mathe und damit die erste Arbeit hindurch, in der ich Gebrauch von dem Lösungsblatt machte, bis in die vierte Stunde, Kunst. Hier hatte ich mir ewig lange das Hirn zermartert, wie ich die Sechs loswerden konnte, oder die Lehrerin besänftigen, oder ihr zeigen, dass ich nicht so blöd war, wie sie dachte. Und das alles möglichst ohne Tims Aufmerksamkeit zu wecken. Netter Versuch, genauso hätte ich versuchen können, eine Wildkatze zu dressieren. Die hörte auch nicht auf meine Wünsche.
"Ach, haben Sie sich also doch entschlossen, meinen Unterricht weiter zu besuchen Stegi. Sie denken wohl, ich hätte Ihre Worte aus der letzten Stunde vergessen?"
Mein Banknachbar sah irritiert aus und schien sich einen Reim auf ihre Worte machen zu wollen, aber er kam zu keinem Ergebnis. Wie auch, ich hatte ja nicht mal selbst von mir erwartet, so etwas zu tun oder zu sagen wie vor einer Woche. Ich sah die Lehrerin gleichgültig an und zuckte mit den Schultern. Kaum merklich verfärbte sich ihr Gesicht rot. Zeichen von Gefahr. Aber ich war vorbereitet. "Vielleicht hat man Ihnen ja zugetragen, dass ich Ihnen die Sechs durchaus eingetragen habe und wenn Sie sich weiter so verhalten, wird es nicht nur bei einer Sechs bleiben!"
"Mh-hmm", nahm ich ihre Drohung zur Kenntnis. Keine Ahnung ob sie nun erwartete, dass ich vor ihr im Staub kroch und ihre Füße küsste und um Vergebung bettelte, aber das konnte die dumme Tusse sich jetzt auch abschminken. Selbst über meinen zustimmenden Laut regte sie sich tierisch auf: "Was ist das denn nur für eine Art?! Nagut, Sie haben es nicht anders gewollt! Aufstehen, mündlicher Leistungsnachweis! Über was haben wir letzte Woche hier im Unterricht gesprochen?"
Innerlich lächelte ich schmal, während ich mich vom Stuhl erhob und mich halb an den Tisch vor mir anlehnte. Vielleicht glaubte die im Moment noch, dass sie mich würde vorführen können, aber ich hatte mich gut vorbereitet und gelernt. Das eine Mal, um die Genugtuung meines Lebens zu erfahren. "Wir haben uns Stichpunkte zur Geschichte der Fotografie gemacht und uns bekannte historische Beispiele zum Thema Bildbearbeitung und -manipulation angeschaut."
Skeptisch hob die Frau eine Augenbraue. "Aha. Interessant, Sie können Tagträumen UND gleichzeitig aufpassen. Dann sagen Sie doch mal, wann der erste Fotoapparat erfunden wurde!"
"Aufgeschrieben haben wir uns 1822, aber das ist falsch. Aus dem Jahr stammt bloß das erste uns erhalten gebliebene abgelichtete Bild, aber den "Fotoapparat" dazu gab es schon lange davor, nur zu diesem Zweck wurde er damals noch nicht verwendet. Schon vor unserer Zeitrechnung gab es die Camera Obscura - die dunkle Kammer - und 1452 hat Leonardo da Vinci dann herausgefunden, wie man damit Fotografien einfangen könnte." Gespannt schaute ich nach vorne und brauchte nicht mal nach einer Reaktion von ihr zu suchen. Sie schien sich vor meinen Augen ganz langsam und von allein wie ein selten hässlicher Kugelfisch aufzublasen. "Ach ja? Sie unterstellen mir wohl schlechte Recherchearbeit bei der Vorbereitung auf den Unterricht?", schnappte sie, fing sich aber wieder, weil diesmal ich und nicht sie Recht hatte. "Wie auch immer, was ist mit dem ersten Farbfoto? Wann wurde das aufgenommen?"
"1861!"
"Hmm, richtig. Und von wem-"
"James Clerk Maxwell!"
Ich konnte ihr ansehen, wie sie innerlich pumpte. Und wie die Mitschüler sich zu mir umdrehten und mich mit gemischten Gesichtsausdrücken anschauten. Doch am verwirrtesten von allen war noch immer Tim. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie sein Mund langsam aufklappte.
"Ein Beispiel für Bildmanipulation?"
"Die Kinder im Bademantel, aus denen die Presse Zwangsjacken gemacht hat, oder der Fluss aus Blut in einem Kriegsland, der eigentlich normales Wasser führte!"
"Setz dich! Ich will dich die Stunde über nicht nochmal hören! Und hoffentlich bleibt dein plötzliches Interesse an meinem Fach dieses Mal auch bestehen."
Yesss! Auch diese Runde ging an mich!
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...