32.

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Am nächsten morgen gab es viele Tränen. Nicht von mir, ich griff mir nur mal wieder an den Kopf, dass ich nicht nachdenken konnte, und schämte mich tierisch für meine SMS. Tim hatte nichts darauf geantwortet, obwohl er sie sofort nach dem Eintreffen gelesen hatte. Er musste sich jetzt denken, dass ich ein kompletter Volltrottel war. Streng genommen fühlte ich mich auch wie einer.

Nein, erwähnte Tränen vergoss dafür Bibi an meiner Schulter, als sie heute früh zu mir kam. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken, während sie über ihr Schluchzen keinen anderen Laut hervorbringen konnte. "Melina", wisperte sie irgendwann, als sie sich wieder ein wenig gefangen hatte, "Melina, T-tobi hat s-sie gestern gef-funden... mit einem a-anderen Mädchen... H-hand in Hand u-und... und... w-wie sie sich gek-küsst haben..."

Kurz hielt ich erstaunt inne, bevor ich Bibi weiter tröstete. Ich hatte Melina nie wirklich gut gekannt, obwohl sie oft bei der Gruppe gestanden hatte und nicht gerade schweigsam gewesen war. Trotzdem war sie ein Mysterium für mich geblieben, nicht so mysteriös wie Taddl zwar, aber unter der Oberfläche dennoch nicht in eine spezielle Kategorie von Personen einzuordnen. Wenn das stimmte und sie wirklich so ähnlich tickte wie ich, dann hatte sie höchstwahrscheinlich ein jahrelanges Versteckenspielen ihrer wahren Gefühle hinter sich. Sogar ein Alibi hatte sie mit ihrem angeblichen Freund gehabt und ich verstand, weshalb gerade er gestern Abend so frustriert gewesen sein musste. Er hatte sich sicherlich Hoffnungen mit ihr gemacht. Würde auch ich Rausfliegen, wenn ich mich Tim wieder zu weit annäherte?

"Hey hey, ist schon gut. Ich glaube, wenn Melina das jetzt nicht mehr verheimlichen muss, hat die Sache auch etwas gutes für sie", murmelte ich, aber Bibi schüttelte den Kopf. "Sie muss die Schule wechseln, Tobi hat ihr was richtig schlimmes angetan und weder er noch sie wollten mir verraten, was das für eine Sache war! O-oh Gott, und das alles nur, weil sie nicht auf Jungs steht!"

Mir wurde kalt, obwohl es um diese Zeit draußen schon sehr schnell warm wurde und die Sonne gerade über die Häuserdächer lugte. Etwas war da faul bei der Sache, aber ich kam nicht genau darauf, was es war. Ich übersah da einfach einen verdammt wichtigen Punkt! Je mehr ich mich zu konzentrieren versuchte, desto weiter in die Ferne glitt dieses Detail. Es war zum Verrückt werden!

"Stegi, alles in Ordnung bei dir?"

Bibis Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit und ich ließ sie sofort los als ich merkte, wie kräftig ich sie während meiner Überlegung an mich gepresst hatte. Kritisch musterte ich sie. Das Mädchen hatte heute auf sämtliche Schminke verzichtet, logisch, die wäre jetzt wahrscheinlich in Strömen zusammen mit ihren Tränen über ihr gesamtes Gesicht verlaufen. Trotzdem sah sie nicht gut aus, ihre Augen waren rot und vom vielen Weinen geschwollen und wenn ich ehrlich war wirkte sie nicht in der Verfassung dazu, den Weg zur Schule zu überstehen, ohne irgendwo das Gleichgewicht zu verlieren und sich zu verletzen. Und austesten wollte ich das auch nicht erst.

"Hör mal Bibi, ich glaube du solltest heute besser nicht zum Unterricht gehen. Du siehst echt komplett fertig aus und ich will nicht, dass dich vielleicht noch jemand deswegen ärgert oder so. Hast du... hast du Lust ein wenig mit mir zu zocken?"

Da war es, ein hauchfeines Lächeln, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie schüttelte den Kopf: "Geht schon, ich kann doch nicht von dir verlangen, dass du wegen mir die Schule schwänzt!" Aber da hatte ich schon wieder die Tür hinter mir aufgeschlossen und hielt sie jetzt ganz wie ein Kavalier auf, um Bibi reinzulassen. Meine Mom würde erst nach der Schulzeit heimkommen und für den versäumten Stoff würde ich Rafi anpumpen, dass er mir sämtliches Zeugs von heute abfotografierte. Obwohl, wenn ich die letzte Probe bestand, musste ich bis zum Abi vermutlich nie wieder etwas mitschreiben! Und brauchte auch nicht mehr regelmäßig zum Unterricht zu erscheinen, easy peasy, fast zu einfach. Warum Rafi und die anderen noch jeden Tag dort erschienen war mir eh ein Rätsel. "Mach dir darum mal keine Gedanken", meinte ich zu Bibi, die noch immer skeptisch zögerte, "das wird absolut keine schlimmen Folgen haben, wenn ich mal einen Tag "krank" bin, dieser eine Typ, Max, ist andauernd entschuldigt. Keine Sorge, und jetzt rein in die gute Stube!"

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt