22.

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Direkt nach dem Treffen mit Tobi flitzte ich nach Hause, kopierte sämtliches Schulzeug für Tim und radelte zum Krankenhaus. Gestern hatte ich ihm nach der kurzen, eher ablehnenden Nachricht noch einmal geschrieben, dass es mir leid tat, weil ich so ausgerastet war am Ende und dann nicht noch einmal etwas auf seine Nachrichten zuvor. Er musste das auch bemerkt haben, denn bis auf ein "Okay" war auch nichts zurückgekommen, kein Nachhaken, kein weiteres Betteln. War mir auch recht, denn gestern hatte ich auch nicht nochmal die Möglichkeit gehabt, großartig mit ihm zu schreiben oder zu telefonieren. Diese Zeit hatten die Hausaufgaben komplett gefressen. Jetzt war ich ihm aber wahrscheinlich ein langes, ausgedehntes Gespräch schuldig, in dem wir uns einander endgültig aussprechen sollten. So jedenfalls der Plan.

Denn als ich von der Krankenschwester zu Tims Raum gebracht wurde, war sein Bett verwaist. Die Decke lag auf dem Boden, das Mittagessen war mal wieder kaum angerührt und seine Straßenschuhe waren verschwunden. Fragend drehte ich mich zu meiner Begleiterin um, die aber genauso ratlos wirkte wie ich und dann alarmiert nach einem Doktor suchte. Ich blieb im Türrahmen stehen. Wo konnte er nur sein? War er weggelaufen? Er war doch noch nicht mal wieder fit genug für weitere Strecken, all die Sachen, die ihm zustoßen konnten, schwirrten durch meinen Kopf und formten dort die fürchterlichsten Szenarios!

Das offene Fenster des Raumes schlug durch einen plötzlichen Windstoß gegen die Wand daneben und erhaschte meine Aufmerksamkeit. Langsam ging ich hinüber und schaute in den Innenhof. Alte Leute in Rollstühlen, soweit das Auge reichte, dahinter meist Angehörige und Pfleger, die die Patienten auf den Kieswegen zwischen den Grünflächen hin und herschoben. Insgesamt ein sehr trostlos wirkender Anblick. Vielleicht hätte ich auch versucht, von hier abzuhauen, wenn das das einzige von der Außenwelt war, was man von diesem Zimmer aus sehen konnte. Aber dann stellte sich wieder die Frage, wohin er gegangen war. Nach Hause? Wahrscheinlich nicht, seine Mom hätte ihn, übervorsichtig wie sie halt war, sofort zurück ins Krankenhaus gekutscht. Zu mir? Dann hätten wir uns klassisch verpasst. Aber auf dem Weg hatte ich auch keinen Tim entgegenkommen sehen. Wohin dann?!

Draußen rief eine alte Frau plötzlich aufgebracht, dass sie weiter geschoben werden wollte. Sofort kümmerte sich eine Schwester um sie, redete ihr gut zu und karrte sie dann um die nächste Ecke. Aber für mich noch viel wichtiger war, dass hinter den beiden eine kleine Parkbank zum Vorschein kam und darauf mit dem Rücken zum Fenster eine hochgewachsene Person mit braunem Haarschopf saß. Tim! Gott sei Dank, er war hier, nicht irgendwo verirrt in der Stadt oder weiß der Geier wo sonst!

"Hier steckst du also!", keuchte ich zwei Minuten später, als ich mich erschöpft durch den Dauerlauf die Treppen hinunter neben Tim fallen ließ. Er schaute kurz zu mir, lächelte dünn und fixierte dann wieder das, was er die ganze Zeit beobachtete: einen kleinen Zierbrunnen inmitten eines blumenlosen und Millimeter genau getrimmten Wiesenstücks, um das noch immer die anderen Patienten entweder alleine oder von anderen betreut zottelten. Das wahrscheinlich einzige Ding hier, das auch irgendwie Aufmerksamkeit verdient hatte. Aber Tims Gesichtsausdruck ließ mich daran zweifeln, ob er wirklich etwas von seiner Umgebung wahrnahm. Er starrte vielmehr durch alles hindurch auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne. "Hey, alles in Ordnung Timbo?", fragte ich möglichst heiter und wollte ihn an mich ziehen, als ich spürte, wie dürr sich sein Körper unter meiner Umarmung anfühlte. Wie schonmal gesagt, Tim war nie fett gewesen, erst recht nicht so fett wie Rafi früher, aber auch nie SO abgemagert wie jetzt! Das war gruselig! Und ließ mich sofort zurückschrecken. "T-timbo, w-was... warum isst du denn nur nichts? Was ist los, sag bitte schon!"

Seufzend drehte er den Kopf beiseite. "Ich hab keinen Hunger, sonst ist alles okay. Schön dass du da bist Stegi."

Ohhh nein! Nein nein nein, DIE Nummer konnte er sich schön abschminken. Und wenn ich ihn Zwangsernähren musste wegen seinem schlechten Gewissen oder für was auch immer das die Symptome waren, er würde mir nicht in den Hungerstreik treten! Soweit kommts noch!

Vorsichtig langte ich unter seinen Schultern hindurch und schleppte ihn halb durch das Gebäude, wieder hoch in seinen Raum, in dem noch immer das mittlerweile kalte Mittag stand, so wie Tim es zurückgelassen hatte. Ich setzte meinen Freund auf dem Bett ab, zog einen Stuhl näher, platzierte mich ihm gegenüber und schaute ihm dann auffordernd in die Augen, während er vehement versuchte, meinem Blick auszuweichen. "Und? Schaffst dus selber oder soll ich dir helfen?", fragte ich, während sich durch all meine überschlagenden Gedanken die Kopfschmerzen von gestern zurückmeldeten. Tim sah verwirrt aus. "Was selber schaffen?", wollte er mit dünner Stimme wissen. Ich zog das Tablett mit dem Teller darauf auf seinen Schoß und deutete mit dem Plastikmesser auf das Essen. "Kriegst du das alleine hin oder muss ich dich erst füttern? Komm schon, du weißt selbst, wie scheiße ungesund es ist, überhaupt gar nichts zu essen!"

"Aber ich hab wirklich keinen Hunger Stegi. Ich will das nicht essen", jammerte mein Freund und rutschte von mir weg, wobei der Teller gefährlich schwankte und beinahe auf das Bett kippte. Ich war aber schneller, packte nach dem ausgeleierten Shirt vom Krankenhaus, das Tim trug, und hob es mit einem Ruck an. Darunter konnte man an Tims Brustkorb schon die Rippen zählen, sein flacher Bauch hätte jedem Model Konkurrenz machen können. Aber nicht mit mir! Da gehörte verdammt nochmal mehr hin als nur Haut und Knochen! Hatten die Krankenschwestern nie bemerkt, wie er unter dem hässlichen sackähnlichen Stoff mittlerweile aussah? Vermutlich nicht, und wenn doch würden sie alle draufgehen dafür, dass sie Tim nicht schon eher zum Essen ermutigt hatten, sondern immer nur brav das komplette Mittag von ihm wieder entsorgten.

Mein Freund hatte mit seinem Fluchtversuch innegehalten, senkte schuldbewusst seinen Blick und schaute den Kartoffelbrei mit Schnitzel und Kraut an, als wäre das Essen vergiftet. Alleine würde er das vermutlich wie bisher nie im Leben runterkriegen. Also scheuchte ich ihn ans Kopfende, setzte mich knapp vor ihm im Schneidersitz auf das Bett, schnitt mit dem Plastebesteck ein Stück vom Fleisch ab und hielt es ihm vor den Mund. Er protestierte.

"Timbo, wenn du jetzt nicht die Gusche aufmachst, dann geh ich und komm nicht wieder!", übertönte ich ihn irgendwann gereizt, als alles gute Zureden wiederum nichts half. Er schaute mich an, als hätte ich ihn geschlagen, verstummte augenblicklich und fixierte dann wieder das Schnitzelstückchen vor seinem Gesicht. Ganz langsam schloss er die Augen und öffnete dafür seinen Mund, nur einen winzigen Spalt breit, aber weit genug, dass ich ihm endlich das erste bisschen an Nahrung seit geschätzt zwei Tagen einflößen konnte. Die Zeit, die er zum Kauen benötigte, schien sich wie Sirup endlos in die Länge zu ziehen, doch als er schließlich damit fertig war, wartete er widerstandslos auf das nächste Häppchen. Und danach auch wieder. So lange, bis der letzte Krümel von seinem Teller verschwunden war und ich ihn lächelnd anstupste, damit er mich wieder ansah. "Und, so schlimm wars doch nicht, oder?", fragte ich heiter, konnte ihm aber keine echte Reaktion entlocken. Nur ein kleines Nicken, bevor er sich von mir umarmen ließ.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt