Mit meinem Zug kam auch Bewegung in die anderen. Anerkennend lehnten sie sich zurück und dann hoben wir vier gleichzeitig unsere Hände. So hatte ich das schon auf der letzten Party kurz gesehen, als Dagi, Bibi und Rafi das gespielt hatten. Es war eigentlich verdammt bescheuert, weil jeder danach von jedem auch das noch so peinlichste Geheimnis kannte.
"Alle bereit?", fragte Tobi, der diese Runde als Spieleleiter fungierte. Wir nickten. "Okay, erste Frage: Ich habe noch nie etwas getan, was ich im Anschluss bereut habe!"
Haha, ja, dieser Abend vermutlich, wenn Tim den Braten riechen sollte. Mit meinem Finger zusammen ging auch der erste von Dagi nach unten.
"Zweite Frage: Ich habe noch nie in meinem Leben Sex gehabt!"
Warum die Frage, wenn alle noch halbwegs nüchtern waren?! Geschlagen senkte ich einen Finger, zusammen wieder mit Dagi und Tobi. Rafi blieb standhaft. "Waaaas?", kreischte seine Freundin, dann schlich sich ein vermutlich verführerisch wirkender Ausdruck auf ihr Gesicht, der zusammen mit ihrer Fahne alles andere als verführerisch wirkte, "das müssen wir doch gleich heute Nacht noch ändern, kleine Jungfrau." Über seinen ausdruckslosen Blick huschte ein dunkler Schatten, bevor sein Kumpel dann die nächste Frage stellte: "Ich habe noch nie meinen Liebespartner betrogen!"
Dagi senkte ihren letzten Finger, lehnte sich seufzend vor und leerte ihr Shotglas. "Manno!", bekundete sie hicksend, während sie es wieder nachfüllte.
"Vierte Frage: Ich habe mich noch nie geritzt!"
Rafi und ich mussten passen. "Oh. Tut mir leid für dich", murmelte ich zu ihm, er zuckte bloß mit den Achseln. Jetzt hatte ich keine Leben mehr und betrachtete den Schnaps vor mir. Ach komm, gib dir nen Ruck, dachte ich und schüttete es in einem Zug weg, der fürchterlich im Hals brannte, noch schlimmer als der normale in den Cocktails. Logisch, aber trotzdem hustete ich nach dem Absetzen. Erneut hob ich drei Finger vor mich.
"Frage nummero Fünf: Ich habe noch nie in das Haus meines Gastgebers gekotzt!"
Gespannt warteten wir. Diesmal keine Reaktion, von niemanden, bis Dagi schließlich bestürzt zu rufen begann: "Es war die Hausmatte, verdammt! Die zählt doch wohl nicht mehr als direkt im Haus!" Rafi verneinte bedauernd und nach einem Boxer gegen seine Schulter gab seine Freundin schließlich eingeschnappt nach.
"Frage Nummer Sechs: Ich habe noch nie...!"
Ich hatte total den Überblick darüber verloren, wie lange wir bereits spielten. Zu lange, ich konnte kaum noch gerade sitzen. Nur noch am Rande bekam ich die Fragen mit, kicherte immer wenn ich sah, wer mit mir zusammen ein Leben verlor und begann alles andere um mich herum nach und nach zu vergessen. Hihihi, ich fing an das Spiel zu mögen. Machte Spaß. Machte, dass mir schön warm war vom ganzen Schnaps. Deshalb protestierte ich auch heftig, als Tobi nach der drölfundfünfzigsten Runde alle Flaschen vom Tisch räumte und die Versammlung sich langsam aufzulösen begann. "Nur noch eine ei-einzige Runde", bettelte ich, stieß aber auf Granit.
"Jetzt kommt doch erst der beste Teil vom Abend: die Probe, oder hast du das schon verdrängt gehabt?"Heftig schüttelte ich mich, obwohl der Kopf alleine wahrscheinlich auch gereicht hätte. Aufgabe! Okay, was sollte ich tun?
"Ich will, dass du einen guten Bekannten von dir anrufst und ihn in ein Gespräch verwickelst. Wenn er vor dir auflegt, hast du verloren. Verstanden?"
Uuuuh neee, jetzt noch jemanden anrufen? Alle die ich kannte waren hier oder schliefen schon. Außer vielleicht...?
Ich zog eine Schnute: "Aber den kannichnichtanrufen. Ich habs ihm versprochen..."
"Wen kannst du nicht anrufen?"
"Timmi", gab ich kleinlaut zu, "er würde mich... nich mehr mögen."
Tobi setzte sich mir gegenüber und schaute mich verständnisvoll an. "Wieso? Nur weil du betrunken bist? Das ist aber ein selten dämlicher Grund um eine Freundschaft zu beenden!" Ich stimmte ihm zu. Jaaah, echt bescheuert von ihm.
"Mir kam es in letzter Zeit vor, als würde er sich nur noch an dich klammern und dich mit seinen Problemen belasten. Stimmt das?" Wieder ein Nicken. "Dachte ichs mir doch. Und dass er dich nicht mehr frei entscheiden lässt und dir vorschreibt zu tun und zu lassen, was er möchte?"
Waaaaahnsinn, Tobi sprach mir direkt aus dem Herzen. Er hatte Recht, Tim konnte ab und zu mit seiner Art wirklich nerven. Seit er so sehr klammerte und soooo viel Aufmerksamkeit brauchte. Da war auch wieder die gehässige Stimme, die mir alle die Beschreibungen für ihn nochmal aufzählte: Mitleidsmagnet, Klammeraffe, Lügenbold, Aufmerksamkeitsfreak, Klugscheißer, Schaumschläger... Joah, wenn ich genauer darüber nachdachte, hatten sie doch alle einen wahren Kern.
"Willst du ihn wirklich nicht mal anrufen, um ihm das zu sagen?"
Ich grinste, fischte mein Handy aus der Hosentasche und wählte auswendig seine Nummer. Während Tobi dem Rest im Raum Ruhe bedeutete und Bibi, die gerade aus dem Bad wiedergekommen war, zu sich winkte, wartete ich ungeduldig auf das Tuten.
Tim ging bereits nach dem zweiten Freizeichen dran: "Hallo, Stegi? Was ist los, solltest du nicht lieber langsam ins Bett gehen?"
"Ach man Timmi", lallte ich, "du bist ab und zu soooo ein Spießer!"
Ich hörte, wie er sein Handy kurz beiseite legte, irgendwas fluchte und dann wieder dranging. "Stegi? Bist du wieder betrunken? Hör zu, wo bist du, ich hol dich von dort ab!"
Er verstand echt nicht. Ich holte tief Luft und sagte ihm dann klar und deutlich: "Versteh doch, ich brauch dich nich! Nich jetzt und auch sonst nich mehr. Deine dauernden Verbote nerven mich. Du nervst mich, Tim! Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein! Tschüssi!"
Es dauerte, bis ich den Auflegen-Button durch den dezenten Schleier vor meinen Augen fand, während mein Ab-nun-Exfreund von der anderen Seite verzweifelt meinen Namen rief. Schnell drückte ich, warf das Handy beiseite auf die Couch und verbeugte mich tief in Tobis Richtung: "Tadaaaa, fertig!"
Ich sah sie alle begeistert klatschen und grinste. Jetzt gehörte ich wirklich zu ihnen!
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...