Blinded & Muted (#Stexpert)

34.

Fast schien es schon so, als hätte es unseren Streit niemals gegeben. Das gesamte Wochenende verbrachte ich jetzt wieder bei Tim und bis auf seine neuen Verletzungen und der ab und zu beinahe an aufgesetzte Höflichkeit erinnernde Umgang miteinander zeigte noch klar die Trennspuren und die Narben, die die letzten Wochen unserer Beziehung zugefügt hatten. Mittlerweile wollte ich von dem Geheimnis, das Tim noch immer wie seinen Augapfel hütete, gar nichts mehr wissen. Es reichte mir, wenn er mir versicherte, dass es besser auch geheim blieb und er die Bürde allein zu tragen hatte. Dafür verbot er mir auch nicht mehr, mit der Clique abzuhängen, solange ich nicht wieder besoffen mit Bibi oder anderen Leuten rummachte. Doch ich bemerkte auch, wie traurig er aussah, nachdem wir uns verabschiedet hatten, als wolle er mich tief drinnen immer noch nur für sich behalten.

Zur Schule kam er auch nicht wieder, obwohl es ihm am Montag schon deutlich besser ging. Die Lehrer taten, als wäre nichts und auch ich hatte mich an die konstante Leere neben mir gewöhnt, das fehlende Austauschen von belustigen Kommentaren und das sanfte Anstupsen, wenn meine Gedanken mal wieder zu weit abgedriftet waren.

Bibi freute sich extrem, als ich ihr erzählte, dass Tim und ich uns wieder gut verstanden. Aber auch sie wusste mit dem Video, auf dem wir uns küssten, nichts anzufangen. Sie errötete bloß stark, als ich es ihr nach der letzten Stunde zeigte. "Oh Gott, war ich da auch schon so betrunken, dass ich das nicht mehr geschnallt hab? Sorry man, ich hätte das niemals zugelassen, wenn ich noch klar im Kopf gewesen wäre!"

"Nicht deine Schuld", nuschelte ich und winkte Dagi zum Abschied, die gerade aus dem Schulhaus lief, das Handy am Ohr und uns ebenfalls zulächelnd.

"Aber wer war das denn mit der Aufnahme? Außer unserer Clique war doch niemand auf der Party gewesen! Also entweder Tobi, Rafi, Taddl oder Dagi. Glaubst du, jemand von denen will dir so eins auswischen?"

Hm, gute Frage, aber darüber hatte ich mir bereits am Wochenende den Kopf zerbrochen und war zu keinem Ergebnis gekommen. Ich schüttelte den Kopf und seufzte laut: "Du weißt noch nichts über den Termin zur letzten Mutprobe oder? So langsam krieg ich das Gefühl, dass dann etwas verdammt Schlimmes passieren wird. Oder dass sich dann endlich der ganze Schlamassel hier auszahlt."

Bibi schaute zu Boden: "Das denke ich auch und ich hoffe für dich so sehr, dass zweiteres der Fall sein wird. Die Probe ist heute Abend bei Tobi Zuhause."

Bevor ich ihr noch etwas nachrufen konnte, hatte sie sich schon umgedreht und stapfte Dagi nach, die noch am Tor stand, das Handy abgesetzt hatte und jetzt ihre Freundin mit denselben Luftküsschen begrüßte, die mir vor wenigen Tagen beinahe zum Verhängnis geworden waren. Ich war hin und hergerissen. Einerseits wollte ich dieses Aufnahmeritual endlich abschließen, andererseits wollte ich eigentlich heute Abend bei Tim sein und mit ihm ins Kino gehen. Wenn ich wegen der Clique absagte, würde ich nur unsere Beziehung wieder aufs Spiel setzen. Jeder andere hätte sich bei dieser Aussicht sicherlich für Tim entschieden, aber ich war natürlich so dumm und begann einmal mehr, ein Lügenkonstrukt zu spinnen. Ein großes Projekt in Kunst, das ich unbedingt perfekt haben wollte um mich bei der Lehrerin für die letzten Stunden einzukratzen, das sollte als Grund reichen, um Tim auf den nächsten Tag zu vertrösten und heute Abend stattdessen zur Party zu können. Egal wie schlecht ich mich schon bei dem bloßen Gedanken daran fühlte.

Ich erinnerte mich selbst, dass es das letzte Mal war und diese Maßnahme dringend notwendig. In gewisser Weise sollte sie ja auch unsere Freundschaft aufrecht erhalten. Also kein allzu großes Problem. Blieb nur zu hoffen übrig, das der ominöse Fotograf heute seine Kamera vergessen hatte und die Aufgabe einfach, unkompliziert und schnell von Statten ging und nicht in einer halben Katastrophe endete, wie schon beinahe der Diebstahl in einer ausgeartet wäre.