Tim schaute mich von der Seite her an, als hätte ich mich soeben als Alien aus einer anderen Galaxie vorgestellt, während ich mich zufrieden zurück auf meinen Stuhl fallen ließ. Verzweifelt blickte er von mir nach vorne zur Lehrerin und dann wieder zurück, wie ich mich mit überlegenem Grinsen und fast komplett geschlossenen Augen nach hinten lehnte und den Triumph genoss. Hätte ich das mal schon früher immer so gemacht, dann wäre mein Selbstvertrauen vielleicht nie so tief gesunken, wie es noch bis vor kurzem war. Jetzt fühlte ich mich großartig!
"Was. Zum Teufel. War das?", fragte Tim fassungslos. Und laut. Die ganze Klasse hatte ihn gehört und tuschelte jetzt wieder. Etwas genervt öffnete ich ein Auge, schaute ihn unschuldig an und zuckte mit den Schultern. Doch ehe er eine erneute Bemerkung machen konnte, hatte auch die Lehrerin sich endlich aus ihrer Ungläubigkeit befreit. "Nun gut, mach wir weiter, wo wir aufgehört haben. Also Klasse, wenn ihr so nett wärt die Bücher auf Seite..."
Ich dachte nicht mal daran, heute noch irgendetwas im Unterricht mitzumachen. Zu groß war das Überlegenheitsgefühl, es versprühte Adrenalin in meinen ganzen Körper und ich war der Überzeugung, dass ich jetzt sogar Felsen stemmen konnte, das mega gedrillte Fitnessprogramm in Sport problemlos bewältigen würde, es war unvergleichbar, so-
Ein Knallen auf dem Tisch vor mir riss mich aus meinen Gedanken. Tim hatte nach meinem Buch gegriffen, es auf der richtigen Seite aufgeschlagen und mit einer demonstrativen Geste vor mir auf den Platz fallen lassen. Verdattert fiel ich aus allen Wolken, stützte mein Kinn auf meine Handfläche und seufzte theatralisch auf.
Bis zum Klingeln am Ende der letzten Stunde verlief alles wieder ganz normal. Sobald das schrille Geräusch dann ertönte, packte ich meinen Krempel und stapfte zum Schultor, an dem ich durch das Fenster im Klassenraum Tobi und Taddl bereits hatte stehen sehen. Hundert pro warteten sie auf mich.
"Hey Kumpels", begrüßte ich sie und ahmte den Handschlag nach, den sie immer miteinander machten. Rafi direkt hinter mir grinste, klopfte mir auf die Schulter und wiederholte dann dasselbe wie ich. "Steht bald wieder was an?", fragte er gespannt und Tobi nickte. "Ich bin grade dabei mir ne neue Probe auszudenken. Nur noch zwei Stück, die Hälfte hast du schon geschafft Stegi, keine Panik. Also bisher hatte ich mir so gedacht...-"
"Gar nichts hast du. Stegi, mitkommen, jetzt!", hörte ich eine wutentbrannte tiefe Stimme hinter mir, ehe die dazugehörige Person mich an meinem Rucksack packte und so kraftvoll mit sich zog, dass ich stolperte und beinahe hinfiel. "Hey, Tim, was soll die Scheiße?!", schrie ich ihn an, doch er dachte nicht im Geringsten daran, mich wieder zu den anderen zurückzulassen, im Gegenteil. Er griff nach meiner Hand und lief mit mir wie mit einem widerspenstigen Kleinkind die Straße vor der Schule entlang. Innerlich begann ich zu kochen: "Lass mich los! Du hast doch gesehen, dass ich mich grade unterhalte!"
"Ja, das hab ich", erwiderte Tim schroff, doch seine Klammer um meine Hand lockerte sich kein bisschen. Schlimmer noch, als wir endlich ein paar Meter vom Schulgrundstück entfernt stehen blieben, langte er auch noch nach meinem anderen Arm, da ich noch immer zerrte und zog, um mich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Jetzt war ich gezwungen, ihn anzuschauen, ich konnte weder vor noch zurück. Nie hatte ich mehr Abneigung, aber auch Angst vor Tim gehabt.
"Ich hab endlich alles was heute passiert ist verstanden, als du eben zu denen gegangen bist. Deswegen hast du das Lösungsblatt. Deswegen hat dich die Lehrerin heute so seltsam behandelt. Die stiften dich an, krumme Sachen im Unterricht zu machen und belohnen dich dafür, nicht wahr? Aber warum machst du das? Ist dir die Schule denn gar nicht mehr wichtig?"
Ich senkte meinen Kopf, weil ich die Vorwürfe in seiner Stimme nicht vertrug. Meine Finger begannen zu schwitzen und ich merkte, wie sie Millimeter für Millimeter seinen Händen entglitten. Nicht mehr lange und ich konnte von ihm loskommen!
"Denk doch an deine Zukunft Stegi, durch so ne Scheiße verbaust du dir richtig viele Chancen! Wenn die rauskriegen, dass du betrügst, fliegst du von der Schule, ohne Abschluss!"
Ich war schon fast an seinen Handflächen vorbei und er war so mit seiner Schimpftirade beschäftigt, dass er es nicht merkte. Nur noch ein winziges Stück!
"Schau mich an."
Ich kam seiner Bitte nach. Er sah ehrlich verzweifelt aus. "Lass mich dir helfen! Triff dich bitte nicht länger mit Tobi und den anderen. Sie verderben dich nur! In ein paar Wochen werden sie dich fallen lassen und dann bist du vielleicht ganz allein. Lass es nicht erst bis dahin kommen!"
Endlich konnte ich meine Hand vollständig lösen. Ich holte aus und gab Tim eine saftige Ohrfeige, durch die er ein Stück zurücktaumelte und sich die Wange hielt. "Hör auf!", brüllte ich ihn an, "Ich kann gut allein entscheiden, was schlecht für mich ist und was nicht! Dass du so anhänglich geworden bist, fuckt mich echt ab! Was bist du, mein Hund oder was? Du bist echt lächerlich Tim!" Dann drehte ich mich um und lief zurück zum Schulhof. Erst dachte ich, dass er mir zornig folgen würde um sich zu revanchieren, aber er stand bloß da und sah mir nach, wie ich nach Tobi Ausschau hielt.
Die Clique hatte zum Glück auf mich gewartet und sah mich gespannt an. "Was wollte der denn von dir?", erkundigte sich Rafi und ich verdrehte die Augen: "Er wollte mir davon abraten, mich weiter mit euch zu treffen. Aber zurzeit ist er eh ein wenig schräg drauf!"
Dagi und Melina gaben bedauernde Geräusche von sich, doch Bibi war die einzige, die zu mir kam, um mich tröstend zu umarmen. "Kommst du gleich nochmal mit mir mit?", flüsterte sie dabei so leise, dass nur ich sie hören konnte.
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...